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20 Wohnsilo, bewacht von schwerbewaffneten Männern in sonderbaren, etwas kindisch anmutenden Uniformen, mit der an beiden Ärmeln gut sichtbar angebrachten Aufschrift „Security Service“. Der Bekannte, der sie beide herzlich umarmte, als sie die Wohnung betraten, war entsetzt, als er hörte, daß sie zu Fuß gekommen waren. „Ihr dürft nur mit dem Taxi kommen, wenn ihr mich besucht!“ belehrte er sie. „Die Schneewittchen da draußen waren wohl so überrascht euch zu sehen, so überrascht über die Frechheit, ihr Viertel einfach mir nichts dir nichts zu Fuß zu durchqueren, daß sie euch in Ruhe gelassen haben. Das war ein selbstmörderisches Unterfangen, was ihr da gemacht habt.“ „Ist es wirklich so schlimm?“ fragte Galja. „Und wie! Noch viel schlimmer!“ Der Freund erwies sich als guter Gastgeber, er bewirtete sie nach guter russischer Art, es gab sogar richtiges Brot, nicht die weiße flauschige Watte, die in Amerika fälschlich unter dem Namen „Brot“ gehandelt wird. „Wißt ihr“, sagte der Freund, der gerne und oft Geschichtchen aus seinem Leben erzählte, „ich wurde zweimal verprügelt. Das erste Mal von Antisemiten in Leningrad, drei sind es gewesen, die geschrien haben: ‚Haut den Saujuden, rettet Rußland!‘ Und das zweite Mal war es schon hier, in Amerika. Vier Farbige haben mir Geldbörse, Uhr und sogar die Brille weggenommen und mich zusammengeschlagen. Muß man verdammt aufpassen in dieser Gegend! Hört ihr! Einer der ‚Guards‘ von draußen, auch ein Schwarzer übrigens, aber ein netter Kerl, ist dann noch rechtzeitig aufgetaucht und hat sie verscheucht, diese Banditen. Sonst würde ich möglicherweise gar nicht mehr hier vor euch sitzen sondern womöglich das Gras schon von unten betrachten, wie man so schön sagt, he, he!“ Borja hatte das Kichern seines Freundes schon von je her nicht ausstchen können, an diesem Tag schien es ihm besonders widerlich. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf, nein, eher eine verabscheuungswürdige Wunschvorstellung. Er dachte plötzlich, daß es gar nicht einmal so schlecht wäre, wenn der Mann, der jetzt vor ihm saß und all Mal Prügel bezöge, diesmal aber noch saftiger und ordentlicher. Aller guten Dinge sind drei, dachte er, einmal, zweimal und ... Aber er verbannte diese Bilder sofort. Statt dessen lächelte er verbindlich, nickte mit dem Kopf, seufzte tief und sagte: „Tja, unser Leben war nie leicht, einfach hat man es uns nie gemacht, was Ljowa!“ „So ist es, leider!“ meinte Ljowa. „Ein wahres Wort.“ Des Philosophierens müde, sprachen sie nun von alten Zeiten, von gemeinsamen Erlebnissen, von der Emigration und natürlich von der Zukunft. Und die sah nicht allzu rosig aus. Selbstverständlich gab es vergleichbare ältere Ehepaare, denen es noch schlechter ging als Borja und Galja. Zumindest hatte Galja, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre, sich der fast unlösbaren Aufgabe verschrieben, alle erforderlichen Prüfungen zu bestehen, um auch in Amerika als Ärztin arbeiten zu können, ein langwieriges Unterfangen, das Nerven und Geld kostete und zudem wenig Erfolgschancen versprach, da nur ein sehr geringer Prozentsatz die umfangreichen und trickreichen Sprachprüfungen und medizintheoretischen Tests bestand. Wohl ist es ein offenes Geheimnis, daß die medizinische Versorgung in den Vereinigten Staaten nicht gerade zu den besten gehört, zugegeben, die eingewanderten Ärzte waren oft menschlich geeigneter und fachlich qualifizierter als ihre amerikanischen Kollegen, doch sowohl Galja als auch Borja verstanden, daß man bei einem solchen Gebiet wie der Medizin die größtmögliche Vorsicht walten lassen muß, und nahmen deshalb die auf sie zukommenden Belastungen in Kauf. Vorläufig aber hieß es sich irgendwie durchschlagen, von einem Tag zum anderen. Natürlich war da auch die Unterstützung der jüdischen Organisationen. Nein, sie konnten sich wirklich nicht beklagen. Borja näherte sich dem Meer. Er ging unter dem Stahlgerüst der „Subway“ durch, die mit ohrenbetäubendem Lärm, auf dieser Metallstraße über ihm, vorbeibrauste, vorbei an rußgeschwärzten Backsteinbauten, am kleinen koscheren Restaurant von Chaimovitz und einem Fischgeschäft namens „Odessa“, und befand sich alsbald auf der Strandpromenade mit den um diese Zeit der gleißenden Mittagshitze geschlossenen Buden und verlassenen Verkaufsständen. Nur ein Getränkekiosk hatte offen, und der Verkäufer, ein Mann mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht und ausdruckslosen, wie ins Leere starrenden Augen, kämpfte sichtlich mit dem Schlaf. Borja beschloß noch einen kleinen Spaziergang zu machen, da ihm vor Arbeitsbeginn noch ein wenig Zeit blieb. Die Strandpromenade wurde von Pflöcken getragen, die in den Sand getrieben waren. Sie bestand aus Brettern, die an manchen Stellen jedoch schon vermodert, vielleicht verbrannt waren, oder es war aus einem sonstigen Grund die Gleichmäßigkeit der scheinbar ins Undendliche regelmäßig angeordneten Bretter mit einer gähnenden Leere unterbrochen. Man schaute dann auf den nassen, unratübersäten Sand hinunter, machte einen etwas größeren Schritt und ließ die gefährliche Stelle hinter sich. Wohnviertel, Promenade und Strand bildeten einen halbkreisförmigen Bogen um die Bucht. Winzig, lautlos, hoch oben, teilte ein Flugzeug den ungetrübten Himmel mit seinen Abgasen, wie mit einem weißen Strich. Alles schien erstarrt vor Hitze. Der Strand, zwei Meter tiefer als die Promenade gelegen, zog sich wie ein gelbes Band am Meer entlang. Jetzt, an einem Wochentag und zudem zu Mittag, war er völlig leer. Leer waren auch die in regelmäßigen Abständen aufgestellten käfigartigen Mistkübel, während leere Dosen, zerbrochene Flaschen und Essensreste den Strand und das ufernahe Wasser zierten. „Diese Schweine!“ dachte Borja. „Bei uns in Leningrad gibt es gottlob einen solchen Mist noch nicht, Amerika ist ein unratverseuchtes Land, und den Leuten scheint das auch noch zu gefallen... Bei uns in Leningrad? Bei UNS?“ Ein unangenehmer Laut schnitt durch die scheinbar fast schon zur Materie gewordene Stille, zuerst noch leise, aus der Ferne kommend, dann schwoll er an und zog an Borja vorbei. Ein Jugendlicher, mit einem immens großen StereoKassettenrekorder in der Hand, stolzierte, im Takt der Musik wippend und hüpfend, an ihm vorbei. „Muß das sein?“ dachte Borja. Er seufzte, drehte sich um und ging wieder auf den Lärm der Züge zu. Da, auf halbem Weg zwi