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einer immer größer werdenden Qual. Die Hände, des Schleppens müde, begannen sich zu öffnen, und die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Überall war dieses ertränkende, gelbe Licht. Der Asphalt schmolz unter den Füßen, aber Borja registrierte ihn kaum mehr. Von Schweißtropfen halb geblendet, schien esihm, als ginge er über die spiegelglatte Oberfläche eines Sees, wobei er sich nicht sicher war, ob nun die Schweißtropfen dieses Trugbild erzeugten, oder die glühend-unbewegliche Luft, die sich, über dem Boden schwebend, ausgebreitet hatt. Er begann gelbe Flecken zu sehen, und die Sonne schlug, schlug mit einem tonnenschweren Hammer unaufhörlich auf ihn ein. Er mußte sich zusammennehmen, schüttelte den Kopf, atmete tief durch, und die Welt wie sie war stellte sich langsam wieder ein. Da erschienen wie aus dem Nebel, schwankend zuerst, die roten Backsteingebäude mit geschlossenen Fensterläden, blind wie immer, die endlosen, halbverrosteten Eisenkonstruktionen der Feuerleitern, die fast schon zum Markenzeichen New Yorks geworden sind. Nun waren sie wieder da und kamen, nachdem sie kurze Zeit wie Riesenschiffe auf hoher See geschwankt hatten, wieder zur Ruhe, auch die Geräuschkulisse setzte ganz plötzlich und mit einer fast unvorstellbaren Vehemenz von einem Augenblick auf den anderen ein. Ein Lastwagen fuhr vorbei, die U-Bahn ratterte über ihren Metallweg, die Leute redeten immer noch, und auch Krejna Solomonowna befand sich einen Augenblick vor ihnen, im nächsten wieder hinter ihnen, um zu überprüfen, ob das Bett denn nun auch tatsächlich all die Vorzüge aufwies, die ihr angeblich auf den ersten Blick schon aufgefallen waren. Borja stolpert und fällt. Als er wieder aufgestanden ist, als ihn Galja besorgt fragt, ob er sich verletzt hat, da bekommt er Wut auf das Bett. Er schaut esan und findet esmehr als gräßlich. „Es hätte auf die Mülldeponie gehen sollen“, denkt er, „und dort gehört es auch hin.“ Dann stößt er Galja von sich. „Laß mich!“ schreit er. „Bin halt hingefallen, kann passieren, laß uns gehen, es ist ja sowieso nicht mehr weit.“ „Na, entschuldige, ich wollte dir ja nur helfen“, brummt Galja. „Von dir laß ich mich nicht unterkriegen! Doch nicht von einem widerwärtigen, schmutzigen Mistding wie du!“ sagt er zum Bett. Er spricht es nicht, er schreit es heraus. „Borja, was ist mit dir, Borja?“ fragt Galja, die ihn perplex anstarrt. So kennt sie ihn nicht, er ist doch nie so. „Es geht mir glänzend“, sagt er „was hast du denn gedacht, ich habe mich noch nie so wohl gefühlt, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als jetzt dieses Bett zu tragen, es ist gut für die Armmuskulatur, vielleicht nehme ich dabei noch ein paar Gramm ab, wenn du nur mit anpacken würdest, dann geht alles vielschneller und machtnoch mehr Spaß.“ „Ich mag nicht, wenn du so redest“, sagt sie. Er zuckt nur mit den Schultern, schaut sie nicht an, nimmt ein Ende vom Bett und hebt es hoch. Sie folgt nun seinem Beispiel, hebt schnaufend das andere Ende, und sie schleppen wieder. Auf einmal fühlt er sich so stark. „Es ist ja wirklich nicht mehr so weit, nur mehr ein Häuserblock, und ich habe gedacht ich schaff’s nicht...“ Da rutscht die Straße plötzlich seitlich weg, die Häuser versinken im Boden, ganz kurz, nur für einen Augenblick, rast ein hellblauer Streifen an ihm vorbei, dann stürzt ihm die Sonne ins Gesicht... KRAMER 1987 Zeichnung von Edith Kramer, New York 1987 23 Sie haben ihn umringt, versuchen ihn aufzusetzen. Jemand versucht es mit Mund zu Mund Beatmung, Rettung und Polizei wurden schon verständigt. Aber es ist zu spät. Sehr bald wird der Leichnahm von der Straße entfernt, die von Weinkrämpfen geschüttelte Galja, die lamentierende Krejna Solomonowna werden weggeführt, die Passanten zerstreuen sich. Erst etwas später, nachdem sich die lähmende, vorabendliche, schwüle Atmosphäre wieder über den Ort gebreitet hat, kommen zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, ein Ehepaar womöglich, und tragen es schnell weg, das Bett. Vladimir Vertlib, geboren 2.7. 1966 in Leningrad, Mutter Programmiererin, Vater Jurist, Mitglieder einer illegalen zionistischen Organisation. März 1971 Ausreiseerlaubnis nach Israel. 1971/72 in einem Ort bei Tel-Aviv; Enttäuschung. Zwischenaufenthalt in Rom, ab Oktober 1972 in Wien, um hier die Einreise nach den USA, Kanada oder Australien abzuwarten. Ab 1972 Volksschule in Wien; 1975 verliert die Mutter in Österreich die Arbeitsbewilligung, die Familie zieht nach Amsterdam, dann wieder nach Israel; Sommer 1976 Riickkehr nach Wien. Ab Herbst 1976 Besuch eines Gymnasiums im XX. Bezirk. 1978 erhalten die Eltern österreichische Fremdenpässe. Neuerlich Immigrationsversuch in die USA - Aufenthalt 1980/81 in New York und Boston; Besuch einer „Public High School“. Erste Schreibversuche, vorerst auf Russisch. Dann neuerliche Rückkehr nach Wien und Matura 1984. 1984-89 Volkswirtschaftsstudium an der Universität Wien. Seit 1986 österreichischer Staatsbürger. 1989/90 Arbeit für eine Presseagentur, dann Zividienst in einem geriatrischen Tageszentrum. 1990-92 Arbeit als Statistiker für eine Versicherung, 1992/93 Länderanalysist bei einer Bank. Vladimir Vertlib arbeitet an einer Reihe von Erzählungen, von denen sich viele mit dem Schicksal von Emigranten und von Menschen, die zu Außenseitern gemacht wurden, auseinandersetzen. Er schreibt jetzt in deutscher Sprache und lebt derzeit in Salzburg.