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24 Karl Müller Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sind in den Jahren 1952 und 1953. Von „rätselhaften Ereignissen“ in einer „gottverlassenen Gegend“ namens Schweigen will der Erzähler berichten — von „sonderbaren Geräuschen“, einem „verdächtigen, [zur Ruine verfallenen] Ziegelofen“ und dem immer wiederkehrenden „ekelhaften, frostigen Gefühl“ bei einem Heimkehrer. Die Geschichte spielt in Zeiten, in denen man den Krieg überstanden glaubt, sich eine Aufwärts-Konjunktur anbahnt, schon wieder die Langeweile umgeht und man „schon wieder recht gut! schlafen zu können meint. Und dann bricht über den Leser „etwas beklemmend Großartiges“, wie Gerhard Fritsch beim Erscheinen des Romans im Jahre 1960 schrieb’, herein: denn es wird eine Welt der ,, Hiindischen Dreieinigkeit“ von „Dummheit, Feigheit und Gewissenlosigkeit“ (Lebert, 594) faßbar. Der Roman ist nämlich eine Aufdeckungs- und Ausgrabungsgeschichte — sowohl im praktischen Sinn des Wortes, wenn der Heimkehrer Johann Unfreund in der verfallenden Ziegelei nach einigen in den letzten Kriegstagen exekutierten Fremdarbeitern gräbt und die Toten findet, als auch im übertragenen Sinne, wenn er nach der Rolle seines Vaters bei diesen Vorkommnissen forscht und dessen Beteiligung entdeckt. Die österreichische Literatur mußte damals, Ende der 50er Jahre — bei so gigantischer Zuschüttung - viel „ausgraben“: Auch in Erich Frieds im Jahre 1960 erschienenen Roman „Der Soldat und das Mädchen“ werden in einem zentralen Kapitel die Toten ausgegraben, die Juden. Auch ein gewisser Karl Maleita siedelt sich — drei Jahre nach dem Krieg - in Schweigen an. Er ist die von Lebert am vielschichtigsten behandelte Figur dieser Geschichte. Er gibt sich als Opfer des Krieges aus und entpuppt sich schließlich als einer, der während des Krieges — widerstandslos - an der Erschießung eines ganzen Dorfes beteiligt war, jetzt aber von seinem SchuldbewuBtsein aufgefressen wird. Mit Entsetzen berichtet er von seiner traumatischen Erfahrung, schon in seiner Kindheit gebrochen worden zu sein, was sein weiteres Leben prägte. Frühe Unrechtsund Ohnmachtserfahrung und vorenthaltenes Liebesglück sind die bestimmenden Faktoren seines Lebens. „Denn ich habe nie die Kraft gehabt, ein Mensch zu sein. [...] ich bin eine Null [...] das Loch, durch das der Wolf ins Dorf hereinkommt!“ (Lebert 560/561) In Karl Maletta krallt sich denn auch - wie ein Geschwür wachsend — das Satanisch-Wölfische fest. Dieses durchdringt in Leberts Roman die gesamte zeitgeschichtliche Ebene. Insbesondere an Malettas dämonischer Gestalt erprobt sich Leberts visionäre Kraft. Karl Maletta wird zur werwölfisch stinkenden Verkörperung der „Mord- und Rachephantasien“ seines „gedemütigten Ichs“. In sein in der Kindheit und Jugend Zerstörtes, in dieses Vakuum, nistet sich — immer weiter sich ausbreitend — das Satanisch-Werwölfische ein, das sich zugleich als Ausdruck der Rache der ungesühnten Opfer verstehen läßt. Die Nachkriegswelt im Dorf Schweigen wird von einer mörderischen Gesellschaft bevölkert, die gegen Kriegsende ungestraft exekutiert hat und jetzt mordend - ihre Verbrechen kollektiv zu vergessen und zu vertuschen sucht. Es ist eine hetzerische Jagdgesellschaft am Werk, die sich u.a. ihre Sündenböcke sucht und sie gnadenlos verfolgt. Eine Tarn-und Maskengesellschaft von Verbrechern und viehischen Visagen (Lebert, 138) ist am Werk, ein Kollektiv, das seine Lektion nicht verstanden hat (Lebert, 389) und in dumpfer Gemiitlichkeit, sexueller Gewalttätigkeit und nazistischem Un-Bewußtsein dahinvegetiert. „Doch mit der Zeit gewöhnt man sich an alles, sogar an den prickelnden Reiz, unter Mördern zu leben“ (Lebert, 23), meint der Erzähler. Ingeborg Bachmann nannte zur selben Zeit eine ihrer Erzählungen „Unter Mördern und Irren“ (1961). Die Thematisierung nationalsozialistischer Verbrechen und der empörend beschwichtigende, vertuschende, rechtfertigende oder gar affirmative Umgang damit in der Nachkriegszeit — das ist die eine Ebene des Romans. Aber das macht beileibe nicht den ganzen Roman aus. Es ist eine zweite Ebene, ja eine Dimension, die den Roman für kunstverständige Leute von Gerhard Fritsch, Ernst Fischer, Heimito von Doderer, Bruno Frei bis zu Elfriede Jelinek -— zum künstlerischen Ereignis werden ließ. Ernst Fischer nannte dies „das Exemplarische des Mythos, frei von Mystifikation und der Absicht zu moralisieren“*, Doderer 1961 - schlicht und einfach „ein neuer Gegenstand, ganz erneuert durch die Sicht“” und Elfriede Jelinek den „großen Mythos einer für immer schuldig gewordenen Welt. [...] Daß wir lebende Tote sind.“® Die Schweigen-Welt wird nämlich keiner soziologischen oder sozialhistorischen, auch keiner im herkömmlichen Sinne psychologischen Analyse unterworfen, sondern vielmehr von einem mythischen, einem metaphysischen Blick durchdrungen, der in alle Dimensionen dieses Kosmos hineinleuchtet und diesen als Erscheinungsort eines ewig unausrotibaren Satanischen begreift. „Das Böse aber, das ist nicht von dieser Welt.“ (Lebert, 594) Der einzelne, die Gesellschaft und die Natur sind Austragungsorte dieser numinosen, in das Diesseits unvermittelt hereinbrechenden Kraft, die sich schließlich in Wolfsform verkörpert. Als sie u. a. in Karl Maletta virulent wird, erkennt dieser sie schrittweise. Die ungesühnten Toten bleiben lebendig und brechen rächend ein. Hier wird kosmischer Gerichtstag gehalten. Das Schöpfungs-Experiment ist gescheitert. Die Bezüge zu Franz Kafka sind unübersehbar.’ Angst, Entsetzen, Perversion, Vernichtung und Selbstvernichtung sind Erscheinungsweisen dieses Bösen, die Natur