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30 „ Verlustanzeige“ Der letzte Satz im Vorwort Brigitte Hamanns lautet: „Sein Buch zeigt an, ein wie guter Schriftsteller Karl Frucht geworden wäre.“ Eine sehr zutreffende Bemerkung. In einem wunderbar klaren Erzählstil, ohne Schnörkel, mit feinem Humor unterlegt, gibt uns der Autor (1911-1991, geboren und gestorben in Wien) einen Abriß dieses Jahrhunderts, wie er in dieser Form selten vorkommt. Karl (früher: Carl) Frucht war ein Verstehender, ein Helfender, ein Freund, ein Tröster, ein Begleiter und einer, der sich nie in den Vordergrund drängte und an sich selbst zuletzt dachte. Von vielen Großen wurde er gekannt und geschätzt; viele waren seine Freunde. Viele Verbindungen blieben flüchtig, andere hielten über Jahrzehnte, besonders die zu Hertha Pauli, der er auf ganz besondere Weise die Treue über ihren Tod hinaus gehalten hat. Mit Hertha Pauli gründete Frucht in Wien 1934 die „Österreichische Korrespondenz“, eine literarische Agentur, die ihn in freundschaftlichen Kontakt zu vielen SchriftstellerInnen brachte: Franz Werfel, Guido Zernatto, Egon Friedell, Annemarie Selinko, Franz Theodor Csokor... Besonders gern mochten wir Theodor Kramer, der in Tausenden Gedichten die einfachen Menschen — wenn es solche gibt - aus seiner Heimatgegend um das niederösterreichische Hollabrunn [sic!] und die von ihm so geliebte hügelige Landschaft um Wien zeichnete. Krank am Magen vom Ersten Weltkrieg her, war er auch arm am Beutel, und obwohl er angesichts mäßiger Einkünfte für seine Veröffentlichungen und seiner Invalidenrente vielleicht besser dran war als so mancher andere Dichter, erschien er uns als der Bemitleidenswerteste unserer Autoren. Er klagte ständig über Schmerzen und haderte in sanfter Resignation mit seinem Schicksal. Oft rief er uns an und bat uns um einen Vorschuß von ein paar Schillingen für ein Gedicht, das er uns anvertraut hatte; und wenn wir seine Gedichte schließlich verkauft hatten, wagten wir nicht, unsere Agenturprovision abzuziehen. Seine Lyrik, meist seine Ungliicksstimmung in wehmiitigen, entsagenden und schlichten, sprachschénen Bildern und Beobachtungen spiegelnd, war besonders fiir Sonntagsbeilagen gefragt. ... Fast jeden Sonntag trafen wir ihn im Café Déblingerhof ... (S. 104f.) Karl Frucht fliichtete wie viele seiner Schicksalsgenossen iiber Frankreich, Spanien, Portugal in die USA. An der franz6sisch-spanischen Grenze war er in Verbindung mit Varian Fry vom ,,American Rescue Committee“ auch selbst als Fluchthelfer tätig. Beeindruckend ist der zweite Teil des Buches, der eine ebenso sachliche wie scharfsinnige Analyse der Situation in den USA während des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach bietet. Auch hier versteht er es, bekannte Persönlichkeiten sehr menschlich in ganz privater Großaufnahme zu schildern, wie z.B. Claire Goll und George Grosz. In dem Buch wird jeder neues finden. Gerhart Frisch Karl Frucht: Verlustanzeige. Ein Überlebensbericht. Wien: Kremayr & Scheriau 1992. 284 S., 6S 313,-. Berichtigung In MdZ Nr.2/1993, S.32 ging von dem Gedicht Stella Rotenbergs beim Umbruch die letzte Zeile verloren. Da diese letzte Zeile für das Gedicht ziemlich wichtig ist, drucken wir das Gedicht noch einmal ab. Ein Österreicher spricht von seinen geflohenen Mitbiirgern zu seinen Mitbürgern, die von nichts wußten ... oder Man nennt sie Emigranten Man nennt sie Emigranten doch meint man die Verbannten die aus dem Lande rannten geächtet. Die Entmannten Gefolterten, Gebrannten. Die, die wir alle kannten. Literaturhaus Eizenbergerhof Unter dem Titel „Andre, die das Land so sehr nicht liebten...“ boten Manfred Baumann, Walter Höller und Kurt Gersdorf am 29. September eine „poetische Hommage“ für Theodor Kramer. Im Oktober lasen in Salzburg auch Stella Rotenberg und Alfredo Bauer. Literatur und Kritik In der Zeitschrift Literatur und Kritik (Salzburg) Nr.277/278 findet sich der Aufsatz „Jugendbewegung und dunkles Sehnen. Zu Theodor Kramers früher Lyrik“ von Karl Fallend und Klemens Renoldner (S.35-43). Auf den S.44-50 sind friihe, zum Teil bisher unbekannte Gedichte Kramers abgedruckt, die die Autoren im Nachlaß Siegfried Bernfelds in der Library of Congress in Washington D.C. entdeckt haben. Kramer dürfte sie vermutlich 1914 an Bernfeld als den Wiener Herausgeber von Der Anfang. Zeitschrift der Jugend geschickt haben. Gedruckt wurden sie damals nicht; ihre erstmalige Veröffentlichung gibt einen Einblick in die Entwicklung des Lyrikers Kramer, der bisher fehlte. Fallend und Renoldner kommentieren die Gedichte und ihre Entstehungsbedingungen mit großem Sachverstand. In derselben Nummer von Literatur und Kritik rühmt Karl-Markus Gauß MdZ . mit den Worten: „Kaisers Zeitschrift ‚Mit der Ziehharmonika‘ ... ist längst nicht mehr nur das Verbandsblatt der ‚Theodor Kramer Gesellschaft‘, sondern, so spartanisch sie gestaltet ist, eine unentbehrliche Quelle für jeden, der sich mit der Kultur des österreichischen Exils und darüber hinaus mit einer österreichischen Ästhetik des Widerstandes beschäftigen will.“ Dieses Lob freut und betrübt. Es betrübt, weil Gauß offenbar nicht zur Kentnis genommen hat, daß sich die Redaktion der MdZ aus Siglinde Bolbecher, Gerhard Scheit und Konstantin Kaiser zusammensetzt und die MdZ daher nicht ein Ein-Mann-Betrieb ist. Lisette Buchholz spricht am 2. Dezember 1993 zum Thema „Österreichisches Exil in deutscher. Hand?“ im Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung, .1020 Wien, Prasterstern 1. Beginn 19 Uhr. Der Vortrag schließt eine Veranstaltungsreihe zur österreichischen Exilliteratur ab. Buchholz‘ Mannheimer persona verlag publizierte seit 1984 mit Werken von Anna Gmeyner, Lili Körber, Elisabeth Freundlich, Bruno Adler, Walter Fischer österreichische Exilliteratur.