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Michael Genner war Mitbegründer des Flughafen-Sozialdiensts und der Asylkoordination Österreich. Als Sprecher der „Aktion Grenzenlos“ rief er die Soldaten, die Innenminister Franz Löschnak an der Ostfront zur Flüchtlingsjagd mißbraucht, zur Befehlsverweigerung auf. Das Verfahren gegen ihn wurde nach zwei Jahren eingestellt. Er arbeitet derzeit als Betreuer im Unterstiitzungskomitee für politisch verfolgte Ausländer im Wiener WUK (Werkstätten- und Kulturhaus). Verfasser u.a. von: Mein Vater Laurenz Genner. Ein Sozialist im Dorf. Wien 1979. „Wiedergutmachung kein Thema“ Brigitte Bailer, Mitarbeiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands, hat mit ihrem Buch ,, Wiedergutmachung kein Thema“ die erste umfassendere Darstellung des Umgangs der Republik Österreich mit den Opfern des Nationalsozialismus geschrieben. Im einleitenden Kapitel skizziert sie die diesbezüglich bisher unzulängliche österreichische Forschung und erwähnt auch, daß ihr von seiten des österreichischen Staatsarchivs die Akteneinsicht verweigert wurde. Die Autorin konzentriert sich vor allem auf die Opferfürsorgegesetzgebung und weist nach, daß Österreich zwar gegenüber den politisch Verfolgten zu sehr beschränkten Entschädigungen bereit war, kaum aber gegenüber den rassisch Verfolgten, vor allem den jüdischen Opfern, aber auch den Roma und Sinti sowie den Slowenen, mit denen sich Bailer ebenfalls explizit befaßt. Rückkehrer konnten nur dann einen Opferausweis oder eine Amtsbescheinigung — die ihnen selbst nicht viel brachten — beantragen, „wenn sie vor ihrer Flucht durch eine Behörde des Dritten Reiches über einige Monate inhaftiert und dadurch beträchtlich in ihrer Gesundheit geschädigt gewesen wären. Jemand, der vergleichsweise unbehelligt bald nach dem ’Anschluß’ hatte flüchten können, erhielt durch das Opferfürsorgegesetz keine Hilfe zur Reintegration.“ In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren war überhaupt, ablesbar an dem beträchtlichen Wahlerfolg des „Verbandes der Unabhängigen“ (AufFortsetzung auf Seite 8 Michael Genner Menschen auf der Flucht 1992 trat in Österreich ein neues Asylgesetz in Kraft. Seitdem ist die Anzahl der Asylwerber in Österreich im monatlichen Durchschnitt auf ein Viertel gesunken. Das Asylgesetz ermöglicht den exekutierenden Behörden die Anwendung von Praktiken, die vielfach als menschenrechtswidrig angesehen werden. So wird der Berufung gegen einen abweisenden Bescheid ohne weitere Begründung die aufschiebende Wirkung aberkannt oder noch vor Abschluß des Asylverfahrens willkürlich die Schubhaft über AsylwerberInnen verhängt. Andere westeuropäische Länder sind Österreich inzwischen in der Verschärfung der Asylgesetzgebung gefolgt. Ein Vergleich mit der Situation österreichischer Flüchtlinge im Jahre 1938 drängt sich auf: Jenes offizielle Österreich, das in den letzten Jahren das Exil als Ressource kultureller Identität und nationalen Prestiges für sich entdeckt hat, schweigt sich zugleich über die brutale Entrechtung der Flüchtlinge, die nach Österreich kommen, aus. - Die Namen der Flüchtlinge in Michael Genners Beitrag sind geändert. Es ist härter und kälter geworden in diesem Land. Die Menschenrechte werden täglich gebrochen; das Asylrecht besteht nicht mehr. Tag für Tag verschwinden Menschen in der Schubhaft. Niemand hört davon, keiner weiß, was mit ihnen dann geschieht. Asylanträge werden mit lächerlichen, zynischen Begründungen abgelehnt. Viele Tausende Menschen leben illegal in diesem Land: ohne Arbeit, ohne Schlafplatz. Und in ständiger Angst. Im Schlachthaus Die junge Frau aus Tunesien mit ihrem dreijährigen Kind. Ich sah sie dort sitzen, auf dem Gang des Bundes-,,Asylamtes“ in der Schlachthausgasse in Wien. Ich war mit einem anderen Flüchtling dort, sie wurde von Andreas begleitet, ihrem Betreuer von der Caritas. Ich sah sie nur kurz, sie plauderte mit Andreas und lachte. Viel später erst erfuhr ich, was ihr dann geschah. Sie hatte einen Asylantrag gestellt und wohnte in einem Caritas-Heim. Andreas verlangte, weil sie mittellos sei, Aufnahme in die „Bundesbetreuung“. „Bundesbetreuung“ bedeutet Aufnahme in eine vom Staat finanzierte Unterkunft. Darauf gibt es keinen Rechtsanspruch. Die junge Frau wurde im Bundes-,, Asylamt“ verhaftet, das Kind nahmen sie ihr weg. Sie schrie laut und verlor das Bewußtsein. Man brachte sie ins Schubgefängnis. Begründung: Sie ist mittellos. Den Schubbescheid hat Herr Stracker vom Bundes-Asylamt veranlaßt. „Sie werden sich noch wundern“, hatte er am Vortag, bei der ersten Einvernahme, zu Andreas gemeint. Und: „Hätten’S halt nicht gesagt, daß sie mittellos ist.“ Ein Tag „Bundesbetreuung“ Kostet den Staat pro Kopf viel weniger als ein Tag Schubhaft. Trotzdem zieht das „Asylamt“, zieht das Innenministerium die teurere Variante vor: zur Abschreckung. Damit man in Österreich erst gar nicht mehr um Asyl ansucht. Der Name des Beamten: Stracker. Andere, Größere, Mächtigere, stehen über ihm. Aber das ist keine Entschuldigung. Die junge Frau und ihr Kind wurden noch in der Nacht durch Intervention der Caritas aus der Schubhaft befreit - weil es Zeugen gab und Betreuer. Viele Tausende verschwinden, ohne daß es jemand erfährt. Wie es früher war Zum Glück (oder leider) kann ich mich noch gut erinnern. Ich weiß noch, wie es früher war. 1974 (nach dem Militärputsch 1973 in Chile): Freiplatzaktion für Chile-Flücht