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Die biblische Geschichte beginnt mit der Vertreibung von Adam und Eva aus dem
Paradies, weil sie vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten. Wohin sind sie gegangen?
Eine andere, vielleicht die berühmteste Geschichte aus der Bibel - die alljährlich am
Vorabend des Pessachfestes den Kindern vorgelesen wird - handelt vom Auszug der
Juden aus Ägypten, wo sie Sklaven waren. Und wie sie vierzig Jahre lang durch die
Wüste wanderten, ehe sie reif waren, das gelobte Land Kanaan zu betreten, wo Milch
und Honig fließen würden. Ich habe im Konzentrationslager einen Rabbi gekannt, der
spöttisch lachend behauptete, die Juden wären noch immer unterwegs in der Wüste.
Und das gelobte Land sei noch weit entfernt! - es ist der Messianismus, der das jüdische
Wesen prägt - die unstillbare Sehnsucht nach einem Land der Gleichheit und Freiheit
und der Toleranz!

In dem sehr interessanten Buch von Erich Fromm „Ihr werdet sein wie Gott“, lesen
wir:

Genau wie der Beginn der Menschheitsgeschichte durch die Trennung von der
Heimat (dem Paradies) gekennzeichnet ist, so ist auch der Beginn der Geschichte der
Hebräer dadurch gekennzeichnet, daß sie ihre Heimat verlassen: ‚Der Herr sprach zu
Abraham: Zieh aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will
dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen!

Und Fromm an einer anderen Stelle:

Der Mensch ist behaftet mit der existenziellen Dichotomie, der Natur anzugehören
und sie trotzdem zu transzendieren; da er sich seiner selbst bewußt ist und die Wahl
der Entscheidung hat, er kann diese Dichotomie nur auflösen, indem er vorwärts geht.
Der Mensch muß sich als Fremder in der Welt erleben, als sich selbst und der Natur
entfremdet, um die Fähigkeit zu gewinnen, auf einer höheren Ebene wieder mit sich
selbst, mit seinen Mitmenschen und mit der Natur eins zu werden.

Ich zitiere Hannah Arendt, aus ihrem vierten Beispiel: „Franz Kafka - der Mensch mit
dem guten Willen“. Der Landvermesser K. kommt in ein Dorf, wo er um Aufenthalts¬
genehmigung ansucht, die ihm aber vom Schloß unter tausend Ausflüchten verweigert
wird.

Zwar hängt es irgendwo mit der Regierung zusammen, daß er überhaupt ins Dorf
gekommen ist, aber einen rechtlichen Anspruch auf Aufenthalt hat er nicht. In den
Augen der unteren bürokratischen Behörden stellt sich seine Existenz überhaupt nur
als ein bürokratischer Zufall heraus, und seine gesamte bürgerliche Existenz droht sich
in "Aktensäulen’, die seinetwegen ’entstehen und zusammenkrachen’, abzuspielen.

Dauernd wird ihm vorgeworfen, daß er überflüssig, "überzählig und überall im
Wege ist’, daß er als Fremder sich mit Geschenken abzufinden habe und daß er nur
aus Gnade geduldet werde. - K. selbst ist der Meinung, daß für ihn alles darauf
ankomme, "ununterscheidbar’ zu werden, "und sehr schnell mußte das geschehen;
davon hing alles ab’ ... Kafka schildert das wirkliche Drama der Assimilation - und
nicht ihr verzerrtes Widerspiel. In ihm kommt jener Jude zu Wort, der wirklich nichts
will als sein Menschenrecht: Heim, Arbeit, Familie, Mitbürgerschaft. Er wird geschil¬
dert, als gäbe es ihn nur ein einziges Mal auf der Welt, als wäre er der einzige Jude
weit und breit, als wäre er wirklich ganz allein. Und auch dies trifft auf das genaueste
die menschlich-reale Wirklichkeit, die menschlich-reale Problematik, denn insofern es
einem Juden um das ’Ununterscheidbarwerden’ ernst war, hatte er sich so zu beneh¬
men, als gäbe es nur ihn allein, hatte er sich von allen, die seinesgleichen waren, radikal
zu isolieren!

Hatnalı Arendt zeigt in ihrem Essay, wie „aus der [undarnnentalen Bedrohung ihres
Realitätsbewußtseins“, die Parias des 19. Jahrhunderts ‚‚zwei rettende Ausgänge“
entdeckten.

Der erste Weg führte in eine Gesellschaft von Parias, von Gleichgestellten und, was
ihre Opposition zur Gesellschaft anlangte, auch Gleichgesinnten. Auf diesem Boden
hat sich nie mehr entwickelt als die Realitätsfremdheit der Boheme.

Dem wäre beizufügen, daß auch die Emigranten während der Hitlerherrschaft nicht
recht begreifen konnten, was ihnen geschehen war, und niemals geglaubt hätten - was

zwischen 1938 und 1945 ausgeprägten
Möglichkeiten und Grenzen von Gegenhal¬
tungen derjenigen, die sich als im Lande
Verbliebene zwischen anscheinend notwen¬
digen linientreuen Zugeständnissen und
geistigem Widerstand bewegten. Es geht
um jene, die versuchten, trotz der massiven
nazistischen Zensur und Gleichschaltung
bescheidene Frei- und Spielräume der Kul¬
tur und der Opposition - Öffentlich - zu
nützen.

Gefragt werden soll nicht nur nach den mo¬
ralischen und institutionellen Bedingun¬
gen, sondern auch nach den ästhetischen
Strategien und Techniken des antinazisti¬
schen Ideenschmuggels in der Literatur
und auf dem Theater, nach den Ästhetiken
der ‚Inneren Emigration“, ihren Traditio¬
nen und dahinter stehenden Lebensformen
... Außerdem interessieren der konfliktrei¬
che Umgang mit dem Phänomen ‚Innere
Emigration“ nach 1945 sowie Vergleiche
mit ähnlichen Erscheinungen außerhalb
Österreichs - vor und nach 1945.

Ziel der Tagung ist es, Kriterien zu erarbei¬
ten, die eine plausible Beurteilung von ,,In¬
nerer Emigration“ ermöglichen, so daß
nachträgliche Behauptungen und Selbstzu¬
schreibungen eine historisch angemessene
Beurteilung erfahren und ein differenzier¬
tes Bild des Lebens in totalitären Zeiten
sichtbar werden kann.

Österreichische Literatur im
Nationalsozialismus

Das Forschungsprojekt „Österreichische
Literatur im Nationalsozialismus 1938 ¬
1945“ (Institut für Germanistik an der Uni¬
versität Graz) veranstaltet vom 3. bis 7.
April 1994 (Termin ist noch nicht völlig
gesichert) „Macht. Literatur. Krieg. Inter¬
nationales Symposion zur österreichischen
Literatur im Nationalsozialismus“. Adres¬
se des Projekts: A-8010 Graz, Mozartg.8.

Theodor Kramer im
Literaturhaus Wien

Am 19. Oktober präsentieren die Theodor
Kramer Gesellschaft und der Europaverlag
den neuen Band ‚Laß still mich bei dir
liegen“, Liebesgedichte Theodor Kramers,
herausgegeben von Erwin Chvojka. Erwin
Chvojka wird zur Einfiihrung sprechen,
Ottwalt John aus dem Buch lesen.
Mittwoch, 19. Oktober, 20 Uhr; 1070
Wien, Zieglerg. 26a¬