Stephan Mautner und Anton
Wildgans
In Trattenbach am Semmering fand am 5.
September im Musikvereinssaal wieder
eine Stephan Mautner-Veranstaltung statt:
„Farbige Stunde“. Einführende Worte und
Lesung: Walther Jary; Karl F. Mautner, der
in Washington lebende Sohn des Künstlers,
war anwesend. Es wurde auch eine Doku¬
mentationsausstellung (Bilder, Bücher,
Dokumente) über Stephan Mautner ge¬
zeigt.
Die ,,Raacher Dichterstunde“ am Sonntag,
25. September 1994, 15 Uhr, Bundesheim
Raach, war diesmal Anton Wildgans ge¬
widmet. Titel: ,,Meine Liebe meiner Hei¬
mat“. Es lasen Gottfried und Ilse Wildgans.
Oskar Frischenschlager, Psychoterapeut
und Lehrbeauftragter am Institut für medi¬
zinische Psychologie in Wien, hat 21 Auto¬
ren gebeten, die wichtigsten Wiener Psy¬
choanalytiker und ihre Theorien in Einzel¬
darstellungen vorzustellen. Nicht alle Bei¬
träge können in einem derartigen Buch von
hohem Niveau sein und daher auch nicht
das gleiche Interesse hervorrufen, und
ebenso erscheint die Auswahl der behan¬
delten Analytiker nicht immer ganz logisch.
(Z.B.; Warum enthält das Buch keinen Ar¬
tikel über Siegfried Bernfeld, einen der be¬
deutensten Wiener Psychoanalytiker?)
Bemerkenswert der allerdings kurze Bei¬
trag tiber den 1950 in New York verstorbe¬
nen Paul Federn, einen der engsten Mitar¬
beiter Freuds, von seinem Sohn Ernst Fe¬
dern. Die Wiener Psychotherapeutin Eleo¬
nore Schneiderbauer verfaBte das wohl in¬
teressanteste Portrat des Bandes tiber Bruno
Bettelheim: Es enthält viel bisher Unbe¬
kanntes über die Jugend, Familie, Ausbil¬
dung und die Umstände seiner Entlassung
aus dem KZ Dachau sowie seiner Emigra¬
tion in die USA. Vielleicht regt der Beitrag
zu einer wissenschaftlichen Arbeit über den
1990 nach einem Schlaganfall durch
Selbstmord gestorbenen Psychoanalytiker
an. Hervorzuheben ist weiters Martina He¬
xels Aufsatz über den Wiener, väterlicher¬
seits jüdischen Psychoanalytiker Heinz Ko¬
hut, der 1939 über England in die USA
emigrierte. Er enthält einen langen hand¬
schriftlichen Brief (auch om Faksimile)
Kohuts an seinen Schulfreund, den bekann¬
ten (und einst nationalsozialistischen) Hi¬
ihnen noch in Auschwitz bevorstand. „Die Deutschen sind anständige Menschen“,
sagten viele, ‚‚sie werden so etwas niemals tun!“
Der zweite rettende Ausweg - ich zitiere nun wieder Hannah Arendt -, den viele der
gerade vereinzelten und vereinsamten Juden der Assimilation einschlugen, führte in
die überwältigende Realität der Natur, der Sonne gleichsam, die alle bescheint, und
führte manchmal in den Bereich der Kunst in der Form eines künstlich überhöhten
Bildungs- und Geschmacksniveaus. Natur und Kunst sind Bereiche, die lange Zeit
gesellschaftlichen oder politischen Eingriffen entzogen waren und für unantastbar
galten; in ihnen konnte der Paria sich lange Zeit für unverletzlich halten.
Und nun zum ersten Beispiel Hannah Arendts und der Konzeption eines Paria bei
Heinrich Heine:
Der Paria, der außerhalb der Rangordnungen der Gesellschaft steht und keine Lust
hat, in sie aufgenommen zu werden, wendet sich sorglosen Herzens dem zu, was das
Volk, das Gesellschaft nicht kennt, liebt, erfreut, bekümmert und ergötzt; wendet sich
ab von den Gaben der Welt und erlabt sich an den Früchten der Erde. Die reine Freude
am irdischen Dasein, die man Heine in den dümmsten Mißverständnissen als Materia¬
lismus oder Atheismus ausgelegt hat, hat etwas Heidnisches nur insoweit als sie
unvereinbar scheint mit der Doktrin von der Erbsünde oder christlichem Schuldbewu¬
Btsein.
Solche "heidnische’ Freude durchherrscht alle kindliche und volkstümliche Fabu¬
lierlust, und sie bringt in die Heinesche Poesie jene unvergleichliche Verquickung von
Märchenland und menschlich-alltäglichen Begebnissen, die in der Ballade eine voll¬
kommene Kunstform gefunden hat, aber schon den kleinen sentimentalen Liebesliedern
ihre überwältigende Volkstümlichkeit verlieh.
Und an einer anderen Stelle:
Plötzlich dreht sich alles um, und nicht mehr der Paria, der von der Gesellschaft
verachtete, ist der Schlemihl, sondern die, welche in festen Rangordnungen leben, weil
sie offenbar das, was die Natur großmütig gegeben, eingetauscht haben gegen die
Götzen gesellschaftlichen Vorteils ...
Hannah Arendt war der Meinung, nur ein Paria könne wirklich politisch bewußt
werden. (Und hier möchte ich in Klammer einfügen, wie ich als Emigrant politisch
bewußt wurde, nämlich durch die Begegnung mit außerordentlich scharfsichtigen und
politisch denkenden Menschen, manchmal auch einem Revolutionär. Doch ich wurde
kein Revolutionär, ich war von der Kindheit an auf die passive und umsichtige Gangart
des Schlemihls und des Beobachters eingestellt!). Und Hannah Arendt zitiert Bernard
Lazare (er ist 1905 gestorben) der wollte, ‚daß sich der Jude als Paria verteidige ... denn
jede Kreatur hat die Pflicht, der Unterdrückung zu widerstehen!“
Damit verlangte er, schreibt Arendt weiter, nicht mehr und nicht weniger, als daß
der Paria die Vorrechte des Schlemihls aufgebe, sich löse von der Welt der Märchen
und der Dichter, dem großen Schutz der Natur entsage und eingreife in die Men¬
schenwelt; mit anderen Worten, sich verantwortlich fühle für das, was ihm von der
Gesellschaft angetan ward und nicht mehr flüchte in das göttliche Gelächter und die
erhabene Überlegenheit des rein Menschlichen ...
Politisch gesprochen war jeder Paria der kein Rebell wurde, mitverantwortlich für
seine eigene Unterdrückung, und damit mitverantwortlich für die Schändung der
Menschheit in ihm. Vor dieser Schande gibt es kein entkommen, weder in der Kunst
noch in der Natur. Denn sofern der Mensch nicht nur ein Geschöpf der Natur und nicht
nur die Kreatur Gottes ist, wird er, wo er auch stehe, zur Verantwortung gezogen für
das, was Menschen in der von Menschen geschaffenen Welt anrichten.
Hier irrte sich Bernard Lazare, und mit ihm Hannah Arendt. Schließlich erkannte er
die nackte Warheit - der Paria nämlich weigerte sich, zum Rebellen zu werden. (Und
wie hätte er das tun können, er besaß weder eine Ideologie, noch eine Organisation und
auch keine Lobby.) „Statt dessen wurde er Revolutionär in der Gesellschaft der
anderen, nicht in der seinen“, sagt Hannah Arendt. ,,Oder er wurde zum Schnorrer.
Noch schlimmer, er lebte von den Brosamen und den Idealen der Wohltäter, der
Parvenüs nämlich. Der Paria bleibt dem Parvenü verhaftet, ihn schützend und unter
seinem Schutz!“