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In ihrem dritten Beispiel - ‚Charlie Chaplin: Der Suspekte“ zeigt Hannah Arendt die
Konzeption eines Paria auf einer völlig anderen Ebene. Die Figur des Charlie Chaplin
ist wiederum ein Schlemihl - ‚„‚die populärste Figur erzeugt von dem unpopulärsten
Volk der Erde“ -, aber dieser Schlemihl ,,ist nicht mehr ein heimlicher Prinz aus dem
Marchenland“ seiner Einbildung, ,,Chaplin bewegt sich in einer grotesk tibertriebenen,
aber wirklichen Welt, vor deren Feindschaft ihn weder Natur noch Kunst schiitzen,
sondern nur die selbstersonnenen Listen und manchmal die unerwartete Güte und
Menschlichkeit eines zufällig Vorübergehenden.“

Der Schlemihl Chaplin, der nicht wie der Landvermesser K. ununterscheidbar
werden will, sondern auf seinem bizarren Äußeren beharrt, ist natürlich suspekt. Das
heißt, jeder, der anders ist oder anders aussieht - ist verdächtig! Der Staatenlose, der
Flüchtling, der sich auf Wanderschaft begeben hat, um ein neues Leben zu beginnen,
ist zum Symbol des Paria geworden und damit suspekt. - In der Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen gehörte die Sympathie des Volkes dieser Gestalt, dem Paria
nämlich, „‚weil die Leute in ihm all das wiederfanden, was an Menschlichem in der
Gesellschaft nicht zu seinem Recht kommt.“ Heute ist die Popularität des Chaplin
gesunken und hat einem anderen Idol Platz gemacht. Nach einem epochalen wirtschaft¬
lichen Fortschritt, wo der Kleinbürger ein Autobesitzer ist, fühlt sich der kleine Mann
nicht mehr, solidarisch mit dem Schlemihl, sondern mit dem Parvenü, dem Superman
nämlich. Der american way of life hat sich auch in Europa durchgesetzt, die Klassen¬
unterschiede werden verleugnet und vernebelt, es gibt keinen Ausweg mehr in die
überwältigende Schönheit der Natur oder der Kunst, sondern nur in die Welt der
Warenhäuser und des Konsums! Selbst Natur und Kunst sind zum Konsumartikel
geworden. Jeder kann im Leben Erfolg haben, auch du, es kommt ganz auf deine
Tüchtigkeit an!

Und Hannah Arendt sagt in ihrer „Schlußbemerkung“ , daß die Juden, solange sie nur
gesellschaftliche Parias waren, und nicht zum Untergang verurteilt - was übrigens den
Paria genauso wie den Parvenü betrifft - daß sie sich in „jener Zeit verhältnismäßig
ungestört an der Freiheit und Unverletzlichkeit einer Pariaexistenz erfreuen konnten.“
In diesem Sinne sei die Pariaexistenz, trotz ihrer politischen Wesenlosigkeit, nicht
sinnlos gewesen.

Wir müssen allerdings bedenken, wann dieser Essay verfaßt wurde, nämlich wäh¬
rend des letzten Krieges. In der Sprache dieser verborgenen Tradition hieße das, „‚daß
der Schutz von Himmel und Erde gegen Mord nicht schiitzt ... “ - ,, Jetzt erst stellte sich
allen zum Greifen deutlich heraus, daß die ’sinnlose Freiheit’, die vermessene ’Unver¬
letzlichkeit’ der einzelnen nur der Auftakt gewesen war zu den sinnlosen Leiden eines
ganzen Volkes.“ :

Fred Wander liest beim Mit der Ziehharmoniker-Fest am 29. Mai 1994 aus seiner
noch unveröffentlichten Autobiographie. Foto: Harald Maria Höfinger

storiker Adam Wandruszka, aus dem Jahr
1971. In diesem Brief beschreibt Kohut
nicht nur, wie es ihm im Exil ergangen ist,
sondern erwähnt auch einen anderen Schul¬
kollegen, „‚Loewenberg“, der „schon seit
eh und je Levarie“ heißt. Er irrt sich jedoch
ein wenig mit dem Namen, denn bei diesem
Loewenberg handelt es sich um Sigmund
Löwenherz, den Sohn des einstigen Amts¬
direktors der Wiener Israelitischen Kultus¬
gemeinde, Josef Löwenherz, der heute
noch, wie auch in dem Brief steht, unter
dem Namen Levarie in Brooklyn in New
York lebt. (Die Rezensentin steht in Kon¬
takt mit ihm.) Kohut, der 1981 in Chicago
starb, wurde 1979 auf Initiative Adam
Wandruszkas als korrespondierendes Mit¬
glied in die Österreichische Akademie der
Wissenschaften aufgenommen.
Das Buch enthält noch drei lesenswerte
Beiträge über die ungarischen Psychoana¬
lytiker Michael Balint, Imre Hermann und
Sändor Ferenczi und einen Aufsatz über ein
Stück Therapiegeschichte in den Wiener
Behandlungszentren. Die topographische
Beschreibung Wiener Spaziergänge zu den
einstigen Stätten der Psychoanalyse am
Ende zeigt besonders deutlich das Ausmaß
ihrer Vernichtung und Vertreibung durch
die Nationalsozialisten.

Evelyn Adunka

Oskar Frischenschlager (Hg.): Wien, wo
sonst! Die Entstehung der Psychoanalyse
und ihrer Schulen. Wien, Köln, Weimar:
Boéhlau Verlag 1994, 254 S., 6S 398.¬

Vortrag iiber Paul Griininger

Am 25. Oktober 1994, 19 Uhr 30, sprechen
im Jiidischen Museum der Stadt Wien Ste¬
fan Keller (Ziirich) und Konstantin Kaiser
über Paul Grüninger, der als Leiter der St.
Gallener Kantonspolizei 1938/39 Hunder¬
ten Juden, vor allem auch aus dem Wiener
Raum, die Flucht aus Österreich ermöglicht
hat. Er wurde dafür entlassen und in der
Schweiz erst nach langen Bemühungen
1993 rehabilitiert. Die Israelitische Kultus¬
gemeinde Wien nimmt den Vortrag zum
Anlal3, Paul Grüninger posthum zu ehren.