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10 Ernst Federn 80 Jahre Biobibliographisches Ernst Federn, geboren am 26. August 1914 in Wien. Vater: Paul Federn (1871 1950), Arzt und Pionier der Psychoanalyse, Sozialdemokrat und ein wichtiger Verbindungsmann zwischen der psychoanalytischen Bewegung und der Stadt Wien (Gesundheitsstadtrat Julius Tandler). Mutter: Wilma, geborene Bauer (1884 - 1949), in der sozialdemokratischen Frauenbewegung aktiv. E.F. engagiert sich bereits in den 20er Jahren in der sozialistischen Jugendbewegung; Schutzbund-Mitglied. Seit 1932 Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften an der Universität Wien. 1936 wegen illegaler politischer Tätigkeit für die Revolutionären Sozialisten vom austrofaschistischen Regime eingesperrt und von der Universität relegiert. Nach einer zweiten Verhaftung (insgesamt 11 Monate Haft) Tätigkeit als Sekretär seines Vaters, zusammen mit seiner späteren Frau Hilde Paar Beginn eines Studiums der Heilpädagogik (August Aichhorn). Am 14. März 1938 Verhaftung durch die Gestapo, im Mai ins KZ Dachau und im September 1938 ins KZ Buchenwald gebracht, das er als einer von ganz wenigen jüdischen politischen Häftlingen überlebt, u.a. dank der Unterstützung durch Hilde, die, nach den Nürnberger Gesetzen ‚‚Halbjüdin“, wegen ihm in Wien bleibt. Befreiung im April 1945. 1945-47 Aufenthalt in Brüssel; Bewältigung seiner traumatisierenden Erfahrungen mit Hilfe der psychoanlytischen Theorie - 1946 erscheint in französischer Sprache sein ‚Versuch einer Psychologie des Terrors“ (von dem das Vorwort nebenstehend abgedruckt ist). 1947 Heirat mit Hilde Paar. 1948 gemeinsam mit Hilde Federn nach New York - Wiederzusammentreffen mit den Eltern. 1950 Geburt des Sohnes Thomas. Schließt 1951 ein Studium an der New York School of Social Work der Columbia University ab. Zugleich Psychoanalyse bei Herman Nunberg. Bereits in seiner Diplomarbeit über Psychoanalyse und Kriminalität legt er die Grundsätze dar, die, gestützt auf die wissenschaftlichen Ergebnisse seines Vaters und A. Aichhorns, für seine weitere Arbeit als Sozialpsychologe und Sozialarbeiter maßgeblich sein werden: Hinter delinquentem Verhalten stehen un„In dieser Welt des 20. Jahrhunderts“, sagt Hannah Arendt, „kann man sich nicht mehr außerhalb der Gesellschaft, als Schlemihl und Traumweltherrscher, einrichten. Es gibt keine "individuellen Auswege’ mehr ... “ Und weiter unten: ,,Nur innerhalb eines Volkes kann ein Mensch als Mensch unter Menschen leben ... Und nur ein Volk, in Gemeinschaft mit anderen Völkern, kann dazu beitragen, auf der von uns allen bewohnten Erde eine von uns allen gemeinsam geschaffene und kontrollierte Menschenwelt zu konstituieren.“ Seither ist viel Zeit vergangen, neue Kriege, neue Katastrophen, soziale Verschiebungen und gesellschaftliche Zusammenbrüche haben Millionen Menschen auf die Wanderschaft gebracht. Die individuellen Auswege sind tatsächlich sehr eingeschränkt. Und doch werden weiterhin viele Menschen als Paria und Schlemihle ihr Leben fristen und versuchen, nicht unterzugehen. Und nun zu der Frage zurück - kann es sein, daß die wahre Heimat der Juden noch immer die Diaspora ist? (Ich befrage mich immer wieder, ob ich nicht auch dem andern Glauben schenken muß, der erklärt, seine Heimat in Israel gefunden zu haben?). Beides wird wohl richtig sein, in dem Sinne, daß oft Gegensätze eine Einheit bilden. Die Diaspora jedenfalls wird bestehen bleiben, die Juden neigen in ihrer heimlichen Schlemihlität dazu, auszuweichen und den Ort zu wechseln, damit der nächste Schlag des Schwertkämpfers sie nicht treffe! Der Jude ist zum Salz der Erde geworden, er bildet die verborgene Tradition jener Leute, die durch Fremdheit, durch scharfe Beobachtung ihrer Gegner und durch neuen Mut ein Beispiel geben - weiter zu machen, nicht aufzugeben! Wir lesen bei Heinrich von Kleist - in seiner kleinen, aber bedeutenden Prosaarbeit „Über das Marionettentheater“ - den erstaunlichen Satz: ,,Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten wieder offen ist!“ Der Mensch wurde, als er vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, aus seiner Heimat, dem Paradies verstoßen; er hat seine Unschuld verloren, auch die Fähigkeit, sich aus seiner Mitte heraus in Grazie zu bewegen - wie uns Kleist an dem Beispiel des Tänzers zeigt, der sich an der Anmut einer Marionette entziickt. Die Marionette als ein Modell vom Menschen verharrt gleichsam noch im Urzustand der Natur, ohne Bewußtsein und ohne die Wirrungen erster Erkenntnis. Sie wird vom Puppenspieler (wie von Gott) aus ihrem Schwerpunkt heraus bewegt und ist von unnachahmlicher Grazie. (Jene Grazie, die zur „‚Ziererei“ verkommt, wenn man sich ihrer bewußt wird!) Und auf dieser großen Reise um die Welt und durch das unendliche Bewußtsein, durch alle Wirren und Leiden hindurch, zerrissen von halben Wahrheiten und Fiktionen, getrennt von sich selbst - auf dieser Wanderung durch die Wüste - vermag der Mensch denn zurückzukehren zur Pforte des Paradieses? Endlich in Harmonie und in Frieden mit der Natur und mit sich selbst? Die Erfahrung des Exils und der Zerstreuung in der Welt ist eine Menschheitserfahrung, hören wir bei Hannah Arendt. Der Paria ist aus der Wirklichkeit herausgetreten und sucht eine neue Identität, zurückgeworfen auf das letzte Bollwerk seines Ich - nämlich als ein Mensch, der unter Menschen leben will, ununterscheidbar und mit allen Menschenrechten ausgestattet. Was natürlich unmöglich ist, weil es diese Menschenrechte in der Wirklichkeit noch nicht gibt. (Wie Kafka in seinem Roman „Das Schloß“ zu verstehen gibt!). Im Paria zeigt sich eine Möglichkeit, alle herrschenden Regeln der Gesellschaft, die verzerrt und unvollendet sind, zu brechen, und den auf den kleinsten Nenner gebrachten Anspruch des Menschseins zu konzipieren. Nämlich den einzigen, wahren Anspruch über allen künstlichen Strukturen von Macht und Ungleicheit, von Nationalität und Rasse hinweg. Wir werden uns der eigenen wahren Identität bewußt, der letzten nämlich hinter allen Spiegelungen, wenn wir vorurteilslos im Fremden, in dem Andersgearteten, ein Stück von dem sehen, was auch unser Menschsein ausmacht: Nämlich das Eins sein mit allen Menschen!