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Murner, den bedeutenden franziskanischen Satiriker, obleich in beiden möglichen Referenzen die Berufung auf ,,satirische Ahnen“ präsent ist. Ihrem Selbstverständnis als Sozialistin lag aber sicher Ossietzky näher. In ihrer Wohnung in der Ferdinandstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk verbargen Veza und Elias Canetti das Ehepaar Fischer in der ersten Nacht des Bürgerkrieges im Februar 1934. In einem Nebenzimmer lag die Mutter Vezas im Sterben. Davon erfährt Ernst Fischer erst wenige Tage später, da Veza weder ihre todkranke Mutter, noch die Fischers beunruhigen hatte wollen.”* An Elias Canettis Portrat seiner ersten Frau in der Autobiographie seien jene Ziige Vezas hervorgehoben, die bis jetzt noch nicht erwähnt wurden und die auch indirekt Aufschlüsse über ihr Schreiben geben. Mit Canettis erstmaliger Anwesenheit bei einer Karl Kraus-Vorlesung es war die 300. und fand am 17. April 1924 im Großen Wiener Konzerthaussaal statt treten gleichzeitig Kraus und Vezain sein Leben. Während der neunzehnjährige Canetti, innerlich mit einer Reihe von Vorurteilen gewappnet, dann dem großen Magier des Worts ziemlich bedingungslos erliegt und lange Jahre vergehen, bis er sich von diesem herrischen Meister lossagen kann, trügt bei Veza der erste Augenschein. Zwar sitzt sie stets in der ersten Reihe, aber sie ist eine besonnene Insel inmitten der fanatisierten Menge, durchbricht das Tabu, das Kraus auf Heine legte, durch den Besitz und die Lektüre der Werke des verfemten Autors. Es gibt Romane, mit denen sie lebt: ,,Er (Kraus) interessiert sich nicht für Romane. Er interessiert sich auch nicht für Bilder. Er interessiert sich für nichts, was seinen Zorn schwächen könnte. Das ist großartig. Aber das kann man nicht nachmachen. Der Zorn muß in einem sein, den kann man sich nicht ausleihen.“ ?° Inwieweit Kraus’ Thesen über die Sexualität, die damals als befreiend und aufklärerisch empfunden wurden, irgendeinen Einfluß auf sie hatten, ist schwer abzuschätzen. Allerdings geht Veza Canetti in ihrem Schreiben über Frauen in eine andere Richtung als Kraus. So differenziert, so fern jeder Verklärung und Schwarz-Weiß-Malerei ihre Frauengestalten sind, sind sie trotzdem aus einer radikal weiblichen Sichtweise gestaltet, die indem sie auch die Ausbeutung von Frauen durch Frauen thematisiert, die Klassengegensätze nicht zudeckt. Sicher gingen durch die ,,Schule des Hörens“ sowohl Elias als auch Veza Canetti. In ihrer beider Werk charakterisiert die „akustische Maske“ die Figuren, bei Veza aber tritt auch ein Element hinzu, das ich eine starke optische Präsenz nennen möchte. Das Porträt der Runkel in Die Gelbe Straße zum Beispiel besticht durch eine sparsame Präzision, die mit wenigen starken Strichen mehr aussagt, als eine ausführlichere Schilderung vermöchte. Unter den von Veza geliebten Werken der Weltliteratur (ihr Hauptinteresse galt der deutschsprachigen, der englischen, französischen und russischen Literatur) nahm Tolstois Anna Karenina eine Sonderstellung ein. Anna Karenina war ihr die liebste aller Frauenfiguren, und sobald es um sie ging, konnte sie so heftig werden, daß sie sich zu einer Kriegserklärung gegen Gogol verstieg, meinen großen Russen. Sie forderte eine Ehrenerklärung für Anna Karenina, die mich langweilte, weil sie so gar nichts mit Veza gemein hatte, und da ich nicht nachgab in solchen Dingen war ich standhaft wie ein Blutzeuge und hätte mich eher in Stücke reißen lassen als vor einer falschen Göttin zu opfern, griff sie ohne Scheu zu ihren Folterwerkzeugen und machte sich statt über mich über Gogol her.”® Das Urteil über Gogol revidierte sie später zumindest teilweise, wie im Nachwort von Der Oger?' zu lesen ist. Was Veza an Anna Karenina so faszinierte, ist leicht aus der Thematik ihres eigenen Werks herauszulesen. Die Ehegesetze im zaristischen Rußland machten die Frau fast rechtlos. Ohne Anspruch auf eigene Papiere und ohne Verfiigungsgewalt über ihr Vermögen, hatte sie auch noch nach einer eventuellen Scheidung die Kinder dem Manne zu überlassen. Allein die Aristokratinnen besaßen eine gewisse Bewegungsfreiheit, aber nur, wenn sie die äußere Form zu wahren wußten. „Die Frauenemanzipation bejaht Tolstoi nicht. Er denkt ebensowenig wie die Männer in dem Roman daran, den Frauen staatsbürgerliche Rechte zuzubilligen. Umso erstaunlicher ist die geistige Überlegenheit der meisten Frauengestalten des Romans.“ 2? Im Abschnitt „Der Oger“ aus der Gelben Straße geht die junge Frau Iger ihren Leidensweg zwar schon in einer Gesellschaft, in der das Gesetz die Frauen ein wenig 29 besser schützt, aber im privaten Bereich der Ehe das geltende Recht außer Kraft gesetzt ist. Der Mann kann seine Frau zusammenprügeln, bis sie halbtot auf dem Boden liegt, er kann sie erpressen, indem er vor ihren Augen die Kinder quält und kann sie rechtskundig vergewaltigen, weil er weiß, daß bei „Wiederaufnahme von Intimitäten“ nach dem Streit dem Scheidungsbegehren der Frau nicht stattgegeben wird. Das Kapitel „Der Oger“ gehört innerhalb des Romans zum Beeindruckendsten dieses an Höhepunkten nicht armen Stücks Prosa. Veza Canetti hat es zum Drama umgearbeitet. Daß die Vergewaltigung in der Ehe bis heute kaum gesellschaftlich geahndet wird, gibt ihrem Text eine bestürzende Aktualität. Die Gelbe Straße hätte 1934 erscheinen sollen. Nach dem 12. Februar war dies unmöglich geworden. Ein Rumpfparlament beschloß am 30. April 1934 eine Ständeverfassung für Österreich. Schon zuvor hatte die Regierung die sozialdemokratische Partei verboten, alle sozialdemokratischen Organisationen aufgelöst. Viele entzogen sich der drohenden Verhaftung durch Flucht. Veza Canetti wird Österreich mit ihrem Mann im Jahre 1938 verlassen und nach einer kurzen Zwischenstation in Paris bis zu ihrem Tod 1963 im Londoner Exil leben. Ihr Roman, der schon in mehrere Sprachen übersetzt ist, schildert unvergleichlich den kleinen Kosmos der Gelben Straße, für den die Ferdinandstraße in der Leopoldstadt das Vorbild war, da Veza Canetti die ,,wirklichen Dinge“ beschreiben wollte, die Leute, die sie kannte und die auch oft um Hilfe zu ihr kamen: ,,Sie wolle ihren Leuten helfen und darum schreibe sie Geschichten über sie.“?° In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gaben die Lederhändler der Ferdinandstraße ihr Gepräge, Grossisten, die den größten Teil des Tages in den Türen zu ihren Lagern standen, wie Elias Canetti im Vorwort zum Roman schreibt. Der symbolische Charakter der Farbe Gelb läßt sich sicher nicht allein auf den_ ,,vorherrschenden Farbeindruck der Geschäftsschilder und vor allem der Warenballen der Lederhändler“ reduzieren””, auch nicht auf die ,,traditionellen Assoziationen mit Neid, Eifersucht und Zorn“?! oder die Farbe der Geldstücke, wie im Nachwort von Helmut Göbel steht, obwohl alle jene Bereiche im Text vorkommen. Gelb wurde besonders im Mittelalter in der Kleidertracht der Leute verwendet, die „auffallen wollten oder