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32 tert. Als „Der Zwinger“ (Kapitelüberschrift) fungiert der schon bekannte Herr Iger, der alles erzwingen will. Das fünfjährige Töchterchen einer Bedienerin, Hedi, schmiedet die schon vorliegende Geschichte mit dem neuen Teil zusammen. Mit dem Geld, das das Kind entdeckt, nachdem es ein Winkelbankier im Haus der Hedi versteckt hat, und mit dem sie ganz unschuldig, nur von ihrem großen Hund bewacht, spielt, verwandelt sie die um sie immer größer werdende Menge von Leuten aus der Gelben Straße in eine gierige Meute, die zu allem fähig wäre, nur um in seinen Besitz zu gelangen. Der Hund läßt das aber nicht zu und verwandelt sich in eine reißende Bestie, sobald sich jemand mit unlauteren Absichten nähert. Veza Canetti hat dieses Kind mit einer berührenden Aura ausgestattet, die eher noch dadurch verstärkt wird, daß die Kleine trotz ihres zarten Alters die Erwachsenen durchschaut. Die Autorin umgibt sie mit einem Hauch von Unantastbarkeit, einer Art von Glückspotential für das ganze Leben. Hedi wird auch, indem sie einem armen Mädchen aus dem Kinderheim hilft, heimlich zu ihrer Mutter aufs Land zu fahren, zur Mitverursacherin der letzten großen Szene im Roman, in der Herr Iger das wiederaufgefundene, schon totgeglaubte Mädchen im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Heims als spezielle ,,Uberraschung“ präsentiert und dafür den gewohnten Applaus für einen weiteren seiner berühmten ,,Iger-Tricks“ einzuheimsen gedenkt. Die unerwartete Empörung der Leute schlägt ihn in die Flucht, und so richtet sich der ganze Zorn auf das kleine Mädchen: „Stühle wurden gegen sie erhoben, Schirme drohten, sie wurde gestoßen, geschüttelt und beschimpft, weil sie lebte und nicht tot war; die Spender verlangten von ihr das Geld zurück, prophezeihten ihr die Polizei auf den Hals, und schließlich stießen sie das Kind vom Podium herunter.“°! Der Kommentar der Erzählerin zu dieser Selbstentlarvung der Wohltäter aber gilt, doppeldeutig und von klinischer Präzision, über diese Szene hinaus: „Denn der Mensch schreitet aufrecht, die erhabenen Zeichen der Seeie ins Gesicht gebrannt.“ >? Ihre letzte zu ihren Lebzeiten veröffentlichte Erzählung findet sich unter dem Pseudonym Veronika Knecht in der JuliNummer 1934 der Prager Exilzeitschrift Neue deutsche Blätter unter der Rubrik „Die Stimme aus Deutschland und Osterreich“. Die Erzählung ‚‚Drei Helden und eine Frau“ erzählt vom Mut einer Hausbesorgerin in den Februartagen 1934 in Wien, die zehn junge verfolgte Sozialisten in der Wohnung ihres Schwagers versteckt. Die kleine Erzählung mit der Architektur eines Dramas steigert sich bis zum fast am Ende liegenden Höhepunkt hin, als die Polizisten, nachdem sie in vier Wohnungen vergeblich gesucht haben, vor der fünften Tür umdrehen, hinter der die Verfolgten um ihr Leben bangen. Mit subtiler Ironie, die schon im Titel sichtbar ist, gibt Veza Canetti die Träger der Gewalt der Lächerlichkeit preis. Unter der relativ großen Zahl literarischer Texte zum Februar 1934 (mehr als 180 sind bekannt; so Ulrich Weinzierl in seinem Nachwort zum Band Februar 1934. Schriftsteller erzählen”* unter Berufung auf eine Dissertation von Heidrun Walther) stelIt Veza Canettis Erzählung möglicherweise eine Ausnahme dar. Das Wissen um die geschichtlichen Ereignisse wird vorausgesetzt. Die Erzählung ist wohl unmittelbar nach den Bürgerkriegstagen geschrieben, die sich aber nur in der Parteinahme für die Retterin und die Verfolgten Kommentiert finden. Der Februar 1934 wird nicht als antifaschistischer Mythos gestaltet. Zwar bleibt er, auch Jahrzehnte später, für den Leser durch die sparsamen Texthinweise kenntlich, aber im eigentlichen Zentrum der Erzählung steht der ganz ‚alltägliche‘ Mut einer einfachen Frau. Das Heldentum ist durch die Geschichtsschreibung für die Manner usurpiert, für die Macher der offiziellen Geschichte. Selbst in der Geschichte der Verlierer bleiben die Frauen meist namenlos. So ist die Ironie des Titels ‚‚Drei Helden und eine Frau“ vielleicht nicht nur Ironie, sondern nüchterne Konstatierung eines Tatbestands. Veza Canettis Werk ist ein literarischer Beitrag zur Würdigung des weiblichen Anteils an der Geschichte, vor allem jenes Teils, der wegen eines ideologischen Sehfehlers ob seiner vermeintlichen Unsichtbarkeit ständig, immer noch, vergessen wird. Daß auch sie selber so lange unsichtbar blieb, als Schriftstellerin nicht wahrgenommen wurde, sollte nun aber doch korrigiert werden. Wenn man Liebe nachtragen kann, dann auch Anerkennung und Gedächtnis. Anmerkungen Dieser Artikel wurde in einer längeren Fassung im April 1991 fertiggestellt und soll als Beitrag eines Sammelbandes über österreichische Kultur, herausgegeben von Idalina Aguiar de Melo, in Portugal erscheinen. Elfriede Engelmayer lehrt an der Universität Coimbra (Portugal). 1 Bärbel Schrader: Vorwort. In: Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Junge deutsche Prosa. Hg. und eingeleitet von Wieland Herzfelde, Leipzig 1983 (11932), S.5. 2 Wieland Herzfelde: Einleitung. In: Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Berlin 1932, S. 10. 3 Ebenda, S. 10. 4 Vgl. z.B. Gerald Stieg: Frucht des Feuers. Canetti, Doderer, Kraus und der Justizpalastbrand, Wien 1990. 5 Ernst Fischer: Kultur, Literatur, Politik. Frühe Schriften. Hg. und mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauß unter Mitarbeit von Ludwig Hartinger, Frankfurt am Main 1984. 6 E. Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Hg. und mit einem Nachwort von K.-M. Gauß unter Mitarbeit von L. Hartinger, Frankfurt am Main 1987. 7 Wieland Herzfelde, wie Anm. 2, S. 15. 8 Veza Magd, „Geduld bringt Rosen“. Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland, S. 102f. 9 Veza Canetti: Die Gelbe Straße, München, Wien 1990. 10 Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 - 1931, München, Wien 1980, und E.C.: Augenspiel. Lebensgeschichte 19311937, München, Wien 1985. 11 E. Canetti: Veza. In: Veza Canetti, wie Anm. 9,8. 5. 12 E. Canetti, Brief an die Verfasserin vom 1.8. 1990. 13 Veza Canetti: Der Oger, Miinchen, Wien 1992. Zur Zeit der Abfassung dieser Arbeit war das Drama noch nicht vom Hanser- Verlag veröffentlicht. Ich bedanke mich bei E. Canetti und Ulrike Kramer, durch die ich eine Kopie der Druckfahnen erhielt. 14 E. Canetti: Nachwort. In: Veza Canetti, wie Anm. 13. 15 Siehe Eduard März: Canettis Verdrängungen. In: Wiener Zeitung, 23.1. 1987. Und E. Fischer, ‚‚Erinnerungen und Reflexionen“, wie Anm. 6, insbesondere das Nachwort der Herausgeber. 16 E. Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/M 1981 (1960). 17 Hilde Spiel: Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911 - 1946, Miinchen 1989; Welche Welt ist meine Welt. Erinnerungen 1946 - 1989, Miinchen 1990. 18 E. Fischer, ,,Erinnerungen und Reflexionen“, S. 238.