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36 auch seitens staatlicher ‚Würden“träger dies vor allem im Zusammenhang mit jüdischen DP’s (displaced persons). Zum Schlußerfahren wir einiges über Einwanderungsströme nach dem Krieg und über deren Auswirkung auf die Größe der Kultusgemeinde und die Anzahl der in Österreich lebenden Juden. Aber auch über Ereignisse der jüngeren Geschichte in Verbindung mit der Einwanderung von Juden, besonders aus der Sowjetunion. Schade, daß der Artikel da bald abbricht. Gabriele Kohlbauer-Fritz beschreibt ‚‚Jiddische Subkultur in Wien“, von Ostjuden nach Wien gebracht, hier jedoch nicht wirklich ,,salonfahig“, selbst bei den anderen, den alteingesessenen Juden nicht. Es handelt sich um eine veritable Einwandererkultur. Gedichte in jiddischer Sprache, die Wien beschreiben! Geschickt leitet die Autorin den Beitrag durch einen Textausschnitt von Joseph Roth ein, der das Werbeplakat eines jiddischen Theaters in Wien und davon ausgehend Wesen und Klang des Jiddischen bescheibt. Ein plastisches Bild entsteht. Die später folgenden Text- und Gedichtproben in Jiddisch (mit Übersetzungen) wirken nie wie Fremdkörper im Text. Kohlbauer-Fritz geht auf Kultur und Lebensweise der in Galizien beheimateten Ostjuden ein, zeichnet den historischen Hintergrund und das soziale Umfeld, in dem sie lebten, weist auf die Faszination hin, die Wien als Kulturmetropole auf Juden aus den östlichen Regionen der Monarchie ausübte, nicht zuletzt auch auf jiddischschreibende Schriftsteller. Durch die Kriegsflüchtlinge aus Galizien während des 1. Weltkrieges wuchs die jiddischsprechende Bevölkerung Wiens, wobei die jüdische Arbeiterschaft eine wichtige Basis für die jiddische Kultur bildete. In der Zwischenkriegszeit blieb Wien ein Zentrum, auch für die jiddische Avantgarde, und das obwohl der Rassismus schon damals allgegenwärtig war. ,,... ab dem 1. Juli 1921 wurde ... ein Großteil der galizischen Kriegsflüchtlinge ... mit der Begründung, sie gehörten nicht zur »deutschen Rasse und Kulturnation« aus Österreich ausgewiesen, selbst wenn sie den Nachweis der deutschen Muttersprache erbringen konnten und sich schon längst ökonomisch in Wien etabliert hatten ...“ (S.94) Die jiddische Literatur in Wien hatte ihren Höhepunkt zu Beginn der 20er Jahre. Kohlbauer-Fritz stellt die wichtigsten Autoren und das jiddische Verlags- und Zeitschriftenwesen vor. Wir erfahren, daß die vorherrschenden Themen nicht religiöse Motive oder Schtetlromantik, sondern vielmehr die Auseinandersetzung mit dem modernen Zeitalter und die Isolation des Individuums in der Großstadt waren. Dem äußerst erfreulichen Beitrag folgt ein fundiertes Quellenverzeichnis. Helen Liesl Krags Aufsatz ‚‚Das Jüdische Vaterland: Juden aus der Sowjetunion und den Nachfolgestaaten“ ist schon im Titel ein wenig irreführend, denn daß die Gesamtheit der Juden aus der Sowjetunion das „Jüdische Vaterland‘ bildeten, ist wohl eine etwas gewagte Feststellung, auch wenn die Autorin zur Untermauerung ihrer These die Tatsache anführt, daß zehn der zwölf Millionen Juden ihre Wurzeln in Osteuropa haben. Antisemitisch geprägte Vorurteile und Platitiiden zum Thema Judentum hat es schon genug gegeben, doch auch deren Zwillinge, nämlich philosemitische Vorurteile und Platitüden, feiern ’fröhliche Urständ’. So schreibt Krag zum Beispiel: „Jeder Jude in Europa ist als Individuum multikulturell“ (S.117). Oder, noch toller, nur wenige Zeilen weiter: „Die multikulturelle jüdische »Seele« des einzelnen ist gerade das, was alle Juden in der Welt vereint.“ Wehe also, wenn nicht jeder einzelne Jude multikulturell ist ... Und daß den nach Israel eingewanderten jüdischen Uhrmacher aus Rumänien die multikulturelle jüdische Seele mit seinem noch vor kurzem nach alter Wüstentradition lebenden, ebenfalls eingewanderten Glaubensgenossen aus dem Jemen verbindet, und nicht etwa die Religion oder ähnliche Erlebnisse als Angehörige der jüdischen Minderheit, versteht sich wohl von selbst. Nach diesen Ausflügen zu Multikultur und jüdischer Seele beschreibt die Autorin auf zehn Seiten die Geschichte des Judentums auf dem Gebiet der inzwischen untergegangenen Sowjetunion vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Von rechtlicher und gesellschaftlicher Unterdrükkung im Russischen Reich, der spezifischen Situation in Österreich-Ungarn, über religiöse Intoleranz und (wenn auch inoffizielle) Diskriminierung nach ‚‚nationalen‘“ (de facto rassistischen) Gesichtspunkten und Massenauswanderung in sowjetischer Zeit bis zur postsowjetischen Ära, mit dem sich neu verschärfenden Nationalismus und neuerlicher Massenauswanderung, wird der Bogen gespannt. Die Autorin liefert einige recht aufschlußreiche demographische Angaben, bringt auch ein paar interessante Zahlen über die Auswanderung von Juden und zählt die wichtigsten Ballungsräume der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion auf (wobei sie einige sehr wichtige zu erwähnen vergißt). Woher die Autorin ihre Informationen nimmt, bleibt unklaren, denn auf ein Quellenverzeichnis hat sie verzichtet. Leider sind ihr einige gravierende Fehler unterlaufen. So heißtes, daß Juden ,,... zu vielen Studienzweigen nicht zugelassen (wurden), was sehr leicht mit der Nationalitätenquote zu begründen war. Im Prinzip durften Angehörige jeder Nationalität je nach ihrer zahlenmäßigen Größe im Lande studieren“ (S.125). Diese Aussage entspricht nicht der Wahrheit. Zwar wurden Juden tatsächlich zu vielen Studienzweigen nicht zugelassen, doch dies mit einer „Nationalitätenquote“ zu „begründen“, wäre in der, zumindest verbal, internationalistisch eingestellten UdSSR ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Das Nichtzulassen von Juden zu bestimmten Studienrichtungen, und das unter den fadenscheinigsten, offensichtlich falschen, vorgeschobenen Gründen (z.B. schlechte Noten für tadellosen Leistungen bei Aufnahmeprüfungen) war ja der eigentliche Zynismus des Regimes. Die Nationalität, also die jüdische Herkunft der Betroffenen, durfte nich erwähnt werden und wurde nie erwähnt, obwohl alle Beteiligten wußten, daß es nur darum ging, und daß sie der Ablehnungsgrund war. Daß Angehörige jeder Nationalität je nach ihrer zahlenmäßigen Größe im Land studieren durften, hat nie gestimmt, nicht informell und schon gar nicht offiziell. Weiters wird berichtet, daß es viele Juden in Georgien, Aserbaidschan und den südlichen Republiken (also Zentralasien) gebe, die persisch sprechen. In Wirklichkeit verwenden dort die Juden, soweit sie nicht russischsprachig sind, die jeweiligen Landessprachen oder eigene, lokale Dialekte, wie zum Beispiel das „‚Bucharische“. Weiters ist von „‚etwa 40.000 50.000 Bergjuden“ die Rede, die angeblich in den politisch unruhigen Regionen des Kaukasus leben sollen. Nun gibt es in den erwähnten politischen Krisenherden (Ossetien, Tschetschenien, Abchasien) kaum Juden, schon gar nicht in der erwähnten Größenordnung. Etwas mehr Juden gibt es in Dagestan, einer im Ostkaukasus gelegenen, politisch völlig ruhigen Region, doch auch dort dürfte die Anzahl der Juden, nachdem sehr viele nach Israel ausgewandert sind, kaum mehr die angegebene Größenord