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Doktor Klestil zieht nach Westen Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen. Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 Den Stuttgarter Nachrichten und der Frankfurter Allgemeinen entnehme ich, daß der österreichische Bundespräsident Dr. Thomas Klestil bei seiner Ansprache zum Nationalfeiertag 1994 die Neutralität Österreichs als obsolet und zu einem Stück Vergangenheit erklärte. Das Kommentar der deutschen Zeitungen stellt dieser Meinung des von seiner Frau und und seiner Pressesprecherin verlassenen Mannes die Einstellung des finnischen Volkes und dessen politischer Vertreter gegenüber, die, überzeugt durch ihre Geschichte, nicht bereit sind, die politische Doktrin der Neutralität preiszugeben. Ähnlich wie der Schweiz vertritt Finnland die Auffassung, daß ein „Vereintes Europa“ neutrale Staaten wohl respektieren könne, ohne sie darum ins Abseits zu drängen. Dem politisch herumstrudelnden österreichischen Präsidenten wird von deutscher Seite entgegengehalten, daß die Neutralität in ihrer außenpolitischen Dimension vielleicht ihre Funktion verloren haben möge, daß aber für das österreichische Volk die Neutralität ein bestimmender Wert nationaler Identifikation in der Zweiten Republik darstelle. Gerade gegenüber dem ‚„übermächtigen Deutschland“ sei die Neutralität ein Faktor der Selbständigkeit und Sicherheit. Aber, so heißt es lakonisch, der Präsident Österreichs sehe in der Neuträlität ein Hemmnis im Anschluß an den Westen — auch ein Argument! Da sitz ich nun in der herbstlich bunten Schwäbischen Alb, bei einem Symposium „Frauen im Exil“, und zerbreche mir den Kopf über die politischen Allüren des ersten Mannes meines Geburtslandes, der sich von dem unrühmlichen Schattengespenst seines. Amtsvorgängers mit dem Wahlversprechen zu unterscheiden suchte, „eine aktive demokratische, unabhängige Kraft in Österreich sein zu wollen“. Aber, Herr Präsident, wieso zielt ihre Energie aufeinen wesentlichen Passus der österreichischen Verfassung? Diese wurde bislang zum Jagdgebiet der vierten, sich in diesem Land konstituierenden Partei, die ausdrücklich nicht im antifaschistischen Konsens der Zweiten Republik verankert ist. Die Nachkriegsgeschichte, die unter dem Bann des von den Faschisten über die Welt gebrachten Krieges stand, ging 1989 zuende, aber wohin zielt das bürokratisch-staatstreue Denken? Nach dem Westen, wovon man sich schon immer mehr Profit und ein Geschäft mit flexibler festlegbaren Partnern versprach. Was dem Präsidenten Waldheim und seiner Generation noch persönlich angekreidet wurde, die vaterländische Pflichterfüllung unter dem Lebensstern des Vergessens, wird nun dem ganzen Land oktroyiert. Vergessen und verzeihen, was die Staaten und Völker Europas einander angetan haben und antun, gestrichen die Last der Geschichte, ausgeblendet die Mauer, die durch die Flüchtlings- und Ausländerpolitik durch diese Grenzlandregion gezogen wird. Kein gutes Wort für Nachbarschaft, Freundschaft und Freiheit gegenüber dem Osten, aus dem sich die Kultur Österreichs für zwei Jahrhunderte speiste. Wir brauchen uns nicht zu ändern: Mit weihrauchbrillantiner Modernität wird die „immerwährende“ Neutralität zu einer temporären taktischen Geschicklichkeit; was von der Selbstbestimmung bleibt, ist der Verzehr von selbstgebackener Lipizzanertorte. S.B. Silvia Schlenstedt Theodor Kramer Gesellschaft „..”’ Richt allein aufs Sammeln und Bewahren aus ...“ Silvia Schlenstedts Vortrag bei der Festveranstaltung zum zehnJährigen Bestehen der Theodor Kramer Gesellschaft ,,So gibt es eine Anzahl ganz kleiner Chancen. Material zu Theodor Kramer in den dreißiger Jahren“ wird in Zwischenwelt 4 erscheinen. Wir geben im folgenden nur die Passage wieder, in der sich Schlenstedt mit der Theodor Kramer Gesellschaft auseinandersetzt. Red. Als 1984 von der Gründung der Theodor Kramer Gesellschaft zu hören war und ihre Zeitschrift „Mit der Ziehharmonika“ zu erscheinen begann, gewidmet der Erforschung von Theodor Kramers Lyrik und der Verbreitung seines Werks, wurde dies — die zehn Jahre seither zeigen es — zu einem Ereignis in der Kultur Österreichs. Zugleich konnte dies (zum Beispiel von mir in Berlin) auch empfunden werden als ein Zeichen für Gleichgerichtetheit der Bemühungen von Leuten in verschiedenen Ländern — Bemühungen, eine Stimme, die vom Schutt der Ignoranz und der Abwehr unbequemer Zeitzeugenschaft überlagert war, wieder vernehmbar zu machen. Zum Ereignis, das in die kulturelle Landschaft Spuren gegraben, an ihrer Veränderung gewirkt hat, wurde die Theodor Kramer Gesellschaft wohl besonders deshalb, weil sie an den Zielen ihrer Gründung festhielt, indem sie ,,iiber Kramer hinaus“ und mit neuen Anläufen darauf insistierte, der Literatur des Exils und des Widerstands bei den Heutigen Aufmerksamkeit zu erstreiten. Durch die Tagungen und Symposien, durch die Zeitschrift und die Jahrbücher der Gesellschaft und ihr verschwisterte Buchpublikationen ist in diesen zehn Jahren erheblich mehr und Genaueres an Einsichten, Erfahrungen, Quellen zu österreichischer Literatur im Exil und Schreiben im Widerstand gesichert worden, literarische Texte und Selbstzeugnisse von Antifaschisten und Exilierten mehrerer Generationen wurden verfügbar gemacht — Jura Soyfer und Berthold Viertel, Willy Verkauf-Verlon und Erich Fried, Stella Rotenberg und viele andere, und mit Beständigkeit wurden Materialien präsentiert, die die Brüche in den Lebens- und Werkgeschichten der Verfolgten und Vertriebenen einsehbarer machten, die Verluste, die die Naziherrschaft gebracht hat, die Hindernisse, die vielen eine Remigration, eine Heimkehr gar, schwierig werden ließ. Produktivität hat sich die Gesellschaft — oder, um es weniger pauschal zu sagen: haben ihr die streitbaren Hauptspieler der „Ziehharmonika“ — bewahrt, indem man nicht allein aufs Sammeln und Bewahren eines besonderen Gegenstands aus war, sondern ihn zugleich differenzierte und differenziert auf sein Umfeld‘ in den dreißiger/vierziger Jahren und in den folgenden Zeitläuften bezog; und dazu gehörte das kritische Nachfragen, die Debatte über den gegenwärtigen Umgang mit Exilierten und antifaschistischer Literatur. Durch die selbstgestellte Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß diese Literatur praktisch zum Element der Gegenwartskultur werde, mußte sie in der Öffentlichkeit wohl auch immer etwas unbequem bleiben.