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Trude Krakauer Meine Widersprüche Wenn ihr mich ganz in eure Kreise zieht, So quält die Furcht mich: Du versäumst dein Sein; Doch laßt ihr mich, wie ich’s gewollt, allein, So mahnt die Sehnsucht: Sei ein dienend Glied. Ich bin ein Mensch, der vor sich selber flieht Und kehr doch täglich in mich selber ein, Ich will nur eines: mich von mir befrein Und bin voll Neugier, was mit mir geschieht. Die Neugier treibt zu neuem Abenteuer Und widerstrebend bin ich stets bereit Und laß mich treiben, ohne Ziel und Steuer. Und bleib dieselbe doch in jedem Kleid: Ich irre frierend um die fremden Feuer Und sehn mich nach der großen Dunkelheit. Karl Kraus I. Mit unsrer Kindheit starb die ganze Welt Im Großen Krieg. Es stieg das Blut, der große Ekel stieg, Die Preise stiegen Leben fiel im Feld. Wir wuchsen doch. Wir wollten längst nicht mehr, Wir fühlten Scham, Daß es mit uns nicht auch ein Ende nahm... Leer war die Welt; Kopf, Herz und Magen leer. Da endlich: einer Menschenstimme Laut: Uns ward Beruf Von dir, der neu die alte Welt erschuf, Dir haben wir uns gläubig anvertraut. Den Hingegebnen gabst du dich im Wort, Es ward erhört; Fern war die Welt, sie hat uns nicht gestört Dein eignes Wort wies uns ins Leben fort. Nicht nur zu Wahlen, nein zur großen Wahl Ruft die Partei Im Zeitungslärm verklingt der Zeiten Schrei, Der Mißton übergellt dir den Choral. Du bist der Eine Wir gehen Hand in Hand, Auch das ist viel; Du bist am Ziel wir kommen nie ans Ziel, Doch sind wir einem Ziele zugewandt. Wir kämpfen fern, doch immer wieder rührt Dein Wort uns neu. Du bleibst dir selbst, wir unsrer Sache treu, Bis unser Weg zu deinem Standpunkt führt. I. (Vorlesung Karl Kraus: Aus Grimms Märchen) Ruft diese Stimme noch in einen Saal, Die uns befreite, als sie uns befahl, Die Welten stürzte und Gespenster bannte, Als sie die wahren Namen laut bekannte? Wenn diese Stimme Märchen uns erzählt, Versinkt ins Nichts, was uns zutiefst gequält, Wir finden wieder, was wir stets entbehrt: im Märchen gibt es Wahrheit, Sinn und Wert. Was bleib ich fern, wenn solcher Zauber lockt, Was steh ich abseits, einsam und verstockt? Kurz ist das Leben und der Mensch so schwach, Süß ist Vergessen, wenn der Mut zerbrach... ' Vergessen? Nein! Weh mir, wenn ich vergaß: Für Wert und Unwert fand ich hier ein Maß. Mag sein, daß ich die Wahrheit nie erfaßt Hier lernte ich, wie man die Lüge haßt. Ruft diese Stimme noch aus einem Grab Und nimmt zurück, was sie uns einstens gab: Den Sänger meidend, der sich selbst verriet, Wahr ich die Treue seinem Wort und Lied. II. Das letzte Wort Und immer hat der Tod das letzte Wort, Das Schweigen heißt, und keine Antwort dringt Zu ihm und Frage, Klage, Vorwurf sinkt Auf uns zurück, von seinem Hauch verdorrt. All unser Maß zerschellt in seinem Port. Wenn unser Grübeln den Beweis erbringt, Daß wir im Recht sind der Beweis mißlingt, Denn der im Unrecht war, ist nichts als fort. Wie eine Kerze langsam niederbrennt, Muß selbst die Liebe vom Geliebten lassen, Den sie nicht findet und nicht wiedererkennt; Wer könnte hier noch fordern oder hassen? Vor dem Geheimnis, das wir nicht erfassen, Gilt einzig jenes Schweigens Argument. Dem toten Bruder Ich sehe dich und Mutter immer so: Ihr fahrt in einem Boote, nah dem Strand, Du hältst den Blick dem Meere zugewandt, Dem grauen, grenzenlosen Nirgendwo. Doch Mutter blickt noch manchmal zu uns her, Nur uns zu hören ist sie viel zu weit, Sie sitzt bei dir in ihrem schwarzen Kleid Und unser Flehen überschweigt das Meer.