OCR
22 Marianne Gruber, geboren 1944 in Wien, studierte Medizin, war Ordinationshilfe. Sie wurde zuerst bekannt durch Science Fiction-Kurzgeschichten. Bücher: Die gläserne Kugel (Roman, Graz 1980), Zwischenstation (Roman, Wien 1986), Der Tod des Regenpfeifers (Erzählungen, Framkfurt/M. 1991), Windstille (Roman, Wien 1991). Gruber lebt als freischaffende Schriftstellerin in Wien. Herausgeberin der Literaturzeitschrift ,, Podium“ und seit 1994 Leiterin der Osterreichischen Gesellschaft fiir Literatur. Foto: Ingrid Linhart Verinnerlichungsbehelf, wie Wilfried Zeller-Zellenberg einmal meinte. Kitsch ist aber auch der Versuch, ein persönliches Empfinden zum allgemeinen zu machen. Nicht mehr dieser eine stattfindende Sonnenuntergang, vor dem ich stehe, ist schön. Schön ist, daß wir angesichts eines Sonnenunterganges gemeinsam „schön“ sagen. Diese kontrollierte und gesteuerte Sehnsucht, die eigentlich keine Sehnsucht mehr ist, sondern eine gemeinsame Leerformel, soll ersetzen, was der faschistische Staat, das faschistische System — auch innerhalb einer „Demokratie“ — nicht anerkennen kann: Daß Fehler, Irrtum, Niederlage im blinden Spiel der Orientierungssuche eine Chance darstellen, ja, daß nicht einmal eine Kette von Niederlagen das Ende bedeutet, daß dies noch immer kein endgültiges Scheitern ist, daß sich hier Freiräume öffnen, ein neuer Anfang womöglich sichtbar wird. Aufdem Weg der Unterwerfung des an sich offiziell schon abgeschafften Menschen sind es zwei Dinge, die nutzbar gemacht werden: die Angst und das, womit wir üblicherweise auf Angst antworten - ein verstärktes Sicherheitsbedürfnis. Die Erzeugung irrationaler Ängste ist insofern wichtig, als sie dem faschistischen System erlaubt, mitdem Argument der Sicherheit die Ausschaltung der Freiheit zu betreiben und dies spätestens ab diesem Entwicklungspunkt auch mit offen zur Schau gestellter Gewalt. Die Sprache spielt hier wiederum eine wichtige Rolle. Vereinfachende Formulierungen sollen den Eindruck der Überschaubarkeit an sich komplizierter Sachverhalte erzeugen und dadurch ein gewisses Gefühl von Sicherheit hervorrufen. Nach Abschaffung der Freiheit, der inneren wie äußeren, gibt es keine persönliche Verantwortung mehr und tatsächlich auch keine Revolte. Das Recht auf Verweigerung wird abgelöst durch die Verpflichtung zur Verneinung. Im faschistischen System hat der Bürger Feind zu sein. Die Sprache des Nein wird zur offiziellen Sprache und fördert in erster Linie ein Selbstverständnis, das sich in dem erkennt, was man nicht ist: Man ist kein Volksfeind, kein Kommunist, kein Katholik, kein Agnostiker usf. All dies erklärt noch nicht den Schritt vom Faschismus zum Nationalsozialismus, ja, es wurde lang nicht einmal gesehen, daß hier eine Differenz vorliegen könnte. Heinz Barazon, Jurist und Opfer des NS-Regimes schrieb dazu in einem „Presse“ -Artikel (24./25. Oktober 1987), daß die entscheidende Differenz in der Rassentheorie liege. In der Faschismusdiskussion heute ist dies ein wichtiger Hinweis, wenn man bedenkt, daß Franco per Dekret Anweisung gab, allen Nachkommen sephardischer Juden einen spanischen Paß auszustellen, daß es in Mussolinis Italien zumindest im Süden möglich war, als Jude in relativer und öffentlicher Sicherheit zu leben, wie mir einer meiner italienischen Freunde versicherte — ein ausnahmsweise positives Nord-SiidGefälle. Rassentheorie und Faschismus sind also nicht notwendigerweise miteinander verbunden, wenngleich es sicher keine Rassentheorie ohne ihr zu Grunde liegende faschistische Tendenzen gibt und die Unterscheidung sofort wieder fällt, wenn man von Rassenhaß, auf „simplen Vorurteilen“ basierend, redet.’ Was also Öffnet der Rassentheorie das Tor? Der soziale Protektionismus, die spezielle Großdeutsche Expansionspolitik mögen eine wichtige Rolle gespielt haben, aber reicht diese zweckrationalistische Erklärung aus? Sündenbocktheorien, Verschwörungs-, Weltverschwörungstheorien und Vorurteile — die am häufigsten genannten Ursachen für Antisemitismus — gab es mit unterschiedlicher Heftigkeit im Faschismus Francos, Mussolinis, im Austrofaschismus wie in dem von Hitler. Aber nirgends sonst als bei Hitler trat die herrschende Ideologie derart krass verbunden mit der Idee der Makellosigkeit auf. Das makellose Leben ist das rassisch, genetisch, ideologisch unvermischte. Wozu noch gehört, daß es keine Kompromisse gibt. Eine einzige Abweichung denunziert jeweils das Ganze. Makel, das ist nicht Fehler, nicht Irrtum, nicht Sünde, nicht Vergehen. Einen Irrtum kann man beheben, eine Sünde sühnen, einen Fehler korrigieren, ein Vergehen wieder gut machen. Für Makel gilt all das nicht. Von ihm befreit man sich nur durch den Tod oder durch den riskierten Tod, wie etwa im Fall eines Duells. Makel, das ist ein besonderes Kunstgeschöpf, wie die Makellosigkeit ein besonderes Geschöpf der Kunst ist. (Das Obszöne, Häßliche in der Kunst erscheint dagegen als ,,Rettung“ der Ambivalenz der menschlichen Natur, gegen die Widerspruchsfreiheit.) Mit der Ernennung zu dem, was Makel ist, wird offensichtlich eine besondere Art der Abwehr vorgenommen, eine besondere Art der Widersetzlichkeit bekämpft. Daß sich Gretchen Faust hingibt, ist noch Sünde, die verlorene Jungfräulichkeit bedeutet Makel. Ein uneheliches Kind zu haben, bedeutet Schande, aber das Kind selbst ist der fleischgewordene sichtbare Makel der Mutter. Mit Makel wird also eine Wirklichkeit bezeichnet, die sich jedem Zugriff entzieht. Da kann man nichts mehr tun, außer es hinnehmen. Aber das System der Widerspruchsfreiheit kann weder dulden noch hinnehmen, es muß töten. Gretchen bringt ihr Kind um, wenn auch im Wahnsinn, aber letzten Endes folgerichtig in einer Welt, in der Helena lebt. Der Weg zu diesem Ideal der Makellosigkeit ist in der europäischen Geschichte und Kulturgeschichte lang vorgezeichnet und auch der Preis, den es kostet.® Es gibt da, weit zurückliegend, die Geschichte vom musikalischen Wettstreit zwischen Apollon und Marsyas, den der Flurgott anzettelt und verliert. Die Folgen für ihn sind tödlich. In der Malerei ist „die