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Schändung des Marsyas“ ein immer wie¬
derkehrendes Motiv. Tizian hat sie gemalt,
Pietro Perugino, Tintoretto, Rubens und vor
allem Ribera, Ribera gleich zweimal, ein¬
mal in seiner Jugend und einmal im Alter,
das Thema scheint ihn nicht losgelassen zu
haben.

Das Instrument des Marsyas ist die Syrinx,
eine Flöte, die Athene achtlos wegwirft und
die der Halbgott findet. Musik, das ist im
alten Griechenland mehr als Musik heute,
das ist Atem, Tanz, Bewegung und über den
Tanz Himmel und Erde, das ist Sprache des
ganzen Körpers mit dem ganzen Körper.
Marsyas ist ein begabter Spieler. Unter sei¬
nen Händen wird das Instrument, das
Athene zu gering war, zum töndenden
Wunder.

Aufder anderen Seite steht Apollon mit der
Kithara. Auch er bringt Musik, Musik des
Kopfes. Damit stehen in diesem Wettkampf
zwei Prinzipien gegeneinander auf: Gesetz
gegen Leidenschaften, Erkennen gegen Er¬
leben. Macht gegen Kreatur.

Die Bedingungen des Wettkampfes sind so
einfach wie grausam. Der Unterlegene hat
sich dem Sieger völlig auszuliefern. Marsy¬
as als Triumphator hätte Apollon vielleicht
zu einem Trinkgelage geschleift und von
ihm verlangt, bis zur Bewußtlosigkeit zu
trinken. Eine auch nur ein einziges Mal
besoffene Macht der bestimmenden Vorse¬
hung wäre verwirrt und damit gebrochen.
Aber Marsyas ist der Unterlegene. Nicht,
weil seine Musik unterliegt, sondern weil
Apollon mit Tricks arbeitet. Während Mar¬
syas spielt, muß er sich mit allem, was er ist,
in die Waagschale werfen, mit seinem gan¬
zen Atem. Apollon schlägt bloß die Kithara,
dann jedoch dreht er sie um und spielt sie
verkehrt, schließlich singt er auch noch dazu.
So viel Artistik. Und mit ihr gewinnt er.
Auf Seiten Marsyas’ steht die Kunst und die
Kreatur, er ist Kiinstler und Kreatur: er er¬
schafft, was unter dem Gesetz eines ande¬
ren stehen wird, er ist Schépfer, ohne Ge¬
setzgeber zu sein. Apollon hingegen ist
bloß Artist. Sein Revier ist die Kunstfertig¬
keit, und dort bleibt er auch. Dem unterle¬
genen Marsyas zieht er die Haut ab — eine
äußerst kunstfertige Tötung.

Im Mythos wird weiter erzählt, daß Apollon
offensichtlich über sich selbst erschrickt
und aus Reue seine Kithara zerbricht. Mar¬
syas’ Haut aber wird als getrockneter Sack
über einer Quelle in einem Hain aufge¬
hängt, wo der Wind an manchen Tagen
darüberstreicht und ihm leise Klagelaute
entlockt.

Alle Zeugen der Schändung stehen auf Sei¬
ten des gequälten, sterbenden Marsyas, und
die Künstler bleiben es lang in ihren Dar¬
stellungen. In Riberas beiden Bildern ist der
weit geöffnete, schreiende Mund, obwohl
in der Bildkomposition an den unteren
Rand gerückt, das Aussagezentrum. Ein
Schrei, der nie zu Ende sein wird, der in all
den Jahrhunderten, die waren und die noch
kommen werden, immer von ganz unten
aufsteigen wird, wo die Ohnmacht liegt, die
Ohnmacht der Leidenden, später der Mas¬
sen.” Marsyas ist kein schöner Mensch wie
Apollon. In seinen Zügen spiegelt sich al¬
les, was wir lieber verdrängen und verges¬
sen wollen: eine ganze Menschheitsge¬
schichte des Leidens, die Linien der Mühe
zu leben, die Auslieferung an ein Unver¬
meidliches ohne Gnade und Erbarmen. Die¬
ses Flehen um Erbarmen, das ein Flehen um
Liebe ist: liebe mich, liebe mich, in den
Augen des Marsyas und, noch einmal auf¬
genommen, in den Augen der Zeugen sei¬
ner Qual wird durch die makellose Schön¬
heit Apollons nicht überstrahlt, sondern
verhöhnt, ad absurdum geführt. Es ist eine
Anklage der Macht, der rücksichtlosen
Macht und eines Gesetzes, das gegenüber
den Problemen der menschlichen Existenz
blind ist und blind sein muß. In dieser Dar¬
stellung des Todes, des Schreies, tritt nicht
nur Klage hervor, sondern auch Anklage
und Revolte. Es ist keine Frage: Der, zu
dem sich alles hinneigt, ist der gequälte,
geschändete Mensch.

Und plötzlich kippen die Sympathien. Das
beginnt im Rokoko und erfährt noch eine
Fortsetzung bis zum Beginn des 19. Jahr¬
hunderts, danach ist die Schändung des
Marsyas meines Wissens nach kein Thema
mehr. Marsyas wird so häßlich, daß er in¬
nerlich und äußerlich häßlich erscheint,
während Apollon alles überstrahlt. Das Ge¬
setz, das er vertritt, siegt in diesen Darstel¬
lungen völlig zurecht über das Leben, das
Leben der Menschen. Der Schrei wird
stumm.

Warum alle Sympathien plötzlich auf Sei¬
ten Apollons? Oder anders gefragt. Warum
muß Gretchen untergehen, während Helena
lebt: die Unerreichbare, die unerreichbare
Frau, die dem Nationalsozialismus so dien¬
lich war, mit deren an die Wolken gerück¬
tem Bild man Männer an die Front schickte,
das unerreichbare Ideal, das sich selbst
nicht mehr Fleisch und Blut sein kann —
eben lebendiger Mensch -, sondern nur
mehr leere Gestalt, die ins Unfaßbare ent¬
schwindet, während das, was da ist, das

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Leben in all seinen Gestalten, die erreich¬
bare Frau, das erreichbare Leben in der
erreichbaren Frau zur ‚roten Hure“ ernannt
wird?!

Man kann die Herausforderung Apollons
durch Marsyas als Herausforderung des
Kopfes durch die Leidenschaften verste¬
hen. „Große Gefühle sind immer von ihrer
ganzen Welt begleitet“, schreibt Albert Ca¬
mus im Mythos vom Sisyphos und — so
könnte man fortsetzen — sind deshalb uner¬
laubt; einerseits der Punkt, an dem Macht
ansetzen muß, will sie sich an der Macht
halten, andererseits der Punkt, an dem sie
erfolgreich gefährdet werden kann. Denn
diese „ganze Welt“ ist es letztlich, die die
Götter des Olymp und nicht nur diese Göt¬
ter stürzen wird.

7 Rassenhaß braucht an sich keine Theorie, ob¬
wohl er ihre Entstehung herausfordern kann.
Umgekehrt braucht eine Rassentheorie nicht un¬
bedingt Rassenhaß zur Voraussetzung, obwohl
es ihr Ergebnis sein kann. Das Verhältnis ist
kompliziert und in den jeweils konkreten Fällen
wird sich schwer auseinanderhalten lassen, was
am Beginn stand und was sekundäre Rationali¬
sierung ist. — Die Frage ist, was den Begriff der
Rasse überhaupt hat entstehen lassen, und dann
auch, warum er heute nicht längst fallen gelassen
wurde, da uns die Genetiker belehren, daß die
Unterschiede innerhalb einer „Rasse“ zwischen
den Individuen größer sein können, als die Un¬
terschiede zwischen zwei Rassen.

8 Daß der Weg in die Katastrophe schon so lang
zurückliegend eingeschlagen wurde, entlastet die
Gegenwart allerdings in keiner Weise.

9 Die Vertreibung und Vernichtung der Kreatur
im Kopf bedeutet die Erschaffung der Massen
lang vor ihrem tatsächlichen Entstehen.

10 Es scheint klar, daß ein System, das das Recht
auf Leben nicht mehr uneingeschränkt anerkennt
und für alle seine Bürger gelten läßt, die in ihm
leben, die daraus resultierende Schizophrenie mit
einer besonderen Anstrengung beantworten muß.
Man hat die KZs und die dort durchgeführte indu¬
strialisierte Massenvernichtung mit zweckrationa¬
listischen Argumenten zu erklären versucht, zu¬
mindest tun dies manche Autoren. Die Erklärung
lautet dann, daß mit dem Fortschreiten des Krieges
die Erhaltung der Lager eine zu große wirtschaftli¬
che Belastung darstellte. - Dem ist entgegenzuhal¬
ten, daß — wäre dieses zweckrationalistische Argu¬
ment tatsächlich griffig gewesen — man sich nicht
hätte entgehen lassen, es in der Propaganda auch
einzusetzen. Wenn schon nichts anderes, hätte man
sich immerhin die Mühe der versuchten Geheim¬
haltung erspart.

Es scheint wahrscheinlicher, daß die Massenver¬
nichtung konsequente Fortführung des Mythos
vom reinen, eben makellosen Menschen war.
Angesichts eines Mythos scheiden zweckratio¬
nalistische Argumente aber aus.