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24 Man kann in Marsyas das Symbol der geschändeten und verdrängten Frau sehen, was nicht so abwegig ist, wenn man bedenkt, daß sich die Griechen das Menschengeschlecht unter anderem nur aus Männer bestehend vorgestellt haben, während die Erschaffung der ersten Frau, der Pandora, als Strafe für das Menschengeschlecht galt. Man kann im Konflikt Marsyas-Apollon den Konflikt des Künstlers mit der Gesellschaft sehen, in der er lebt, deren Gesetz er herausfordern muß, um die Macht nach ihrer Legitimität in Bezug auf das Humane zu befragen und der diese Frage mit dem Leben zu bezahlen hat.!! Wie immer man es sehen will — hier wird in jedem Fall eine Revolte niedergeschlagen. Mehr noch: hier werden alle zukiinftigen Revolten der Niederschlagung preisgegeben, egal ob Revolte der Kreatur, des Künstlers, der Frau oder des jeweils Anderen, das revoltiert, indem es auf seinem Anderssein beharrt. Es ist schwierig, Mythen einer geschlossenen Gesellschaft aufjene zu übertragen, die wir die offene nennen. Hier gibt es keinen Vergleich, außer wir entschließen uns, im Mythos den Versuch zu sehen, das bereits Verlorene noch einmal zurückzuholen, zu einen, was schon im Zerbrechen und Auseinanderbrechen ist. Dann bezeichnet der Konflikt zwischen Marsyas und Apollon eine entscheidende Bruchstelle: die aufbrechenden Konflikte in der geschlossenen Gesellschaft, aber auch die Probleme der zukünftigen: das Problem der Freiheit und das bislang ungelöste Problem der Macht. Die Schändung des Marsyas erschreckt, aber das eigentliche Entsetzen kommt daher, daß die Sympathien nach und nach zu Apollon abwandern. Das göttliche Prinzip, dieses Gesetz, braucht keine Kreatur. Es schafft sich lieber Kreaturen. Und es benötigt keine Menschen, die Menschen sind. Es braucht Gehorsam und Erfüllung des Geforderten, — wenn Sie wollen: Pflichterfiillung. Es trennt sich nach und nach von allem, das ihm Spiegel, Korrektiv, Klage und Anklage sein könnte.'? Apollon und Dionysos — die beiden waren vielleicht einmal Komplementäre, dann Antagonisten, schließlich ungleiche Brüder, von denen der eine erlaubt war, der andere verboten wurde. In einer gewissen Weise erleidet Dionysos das Schicksal des Marsyas, wenn auch nicht so grausam. Er wird von seinem Zwillingsprinzip abgespalten, der Januskopf bricht auseinander, der eine Zwilling wird dadurch zum Hehren, Hohen, Idealen, während man Dionysos als das Dunkle, Undurchschaubare zu verteufeln beginnt und als das Unerwünschte, weil nicht Lenkbare verfolgt. Nach der Vernichtung des Gegners oder des Spiegels kann das Gesetz von niemandem mehr auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft werden. Wer widerspricht, ist ein zu vernichtender Gegner und wird vernichtet werden. Ja, es kann auch von keinem Rechtszustand mehr gesprochen werden. Recht basiert auf gegenseitiger Anerkennung der Vertragspartner, aber dieses Gesetz anerkennt niemanden, außer sich selbst.'? In Apollon wird ein Ideal errichtet, das in Helena weitergeführt, im Nationalsozialismus zur politischen Wirkung gebracht wurde. Das Gesetz gibt sich selbst Gestalt und zwar eine, an der das Leben nicht mehr teilhat. An der Kunst, am Auf und Ab, am Entstehen und Vergehen von Stilrichtungen läßt sich sehen, wie sehr die allzu schönen Ideale immer zu Stillstand und Tod führen. Dieses verfluchte sogenannte Vollkommene, das immer nur um den Preis der Aussparung von Wesentlichem zu erreichen ist — in dem Kunst ausgesetzt, außer Kraft gesetzt ist, Kunst als Revolte, als Widerspruch, als Versuch, die Seite der jeweils vom Versinken bedrohten Welt einzunehmen, die Seite der verschwiegenen oder geleugneten Wahrheit, „um hinter dem Elend der Welt und der Tragik innerer und äußerer Widersprüche und Abgründe die dunkle Herrlichkeit des Lebens zu zeigen“, wie Joseph Strelka am SchluB seiner ,, Vergleichenden Literaturkritik“ schrieb... Diese Verherrlicher des Apollon, die sich ganz auf seine Seite schlagen, verraten ihre Kunst und die Menschen, auch die Menschen in der Zukunft. Und die Tatsache, daß der Weg lang vorgezeichnet war, entschuldigt nichts, aber sie sollte hellhörig machen, denn diese Art von Verrat lebt weiter. Er findet sich in Fermis Ausspruch nach der ersten Wasserstoffbombenexplosion in der Wüste Nevadas: „Ist dies nicht wunderschöne Physik?“ In der Tat können auch Hinrichtungsstätten in einer gewissen Weise makellos sein. Man muß nur für einen Augenblick die Augen schließen, um die Schönheit menschenleerer Städte, Flußauen und Wälder vor sich zu sehen. Auf Systeme bezogen, heißt das dazupassende Vokabel: perfekt. Und wie wünschen wir uns Perfektion. Im täglichen Leben der Menschen bedeutet dies, daß es wichtiger ist, pünktlich zu sein als Magengeschwüren vorzubeugen. — Man findet dieses Ideal der Makellosigkeit versteckt in einer Medizin, die streng trennt zwischen gesund und krank, obwohl keiner so genau und oft gar nicht sagen kann, was was ist. Die Narren sind vernünftig, die anderen verrückt — auch das könnte stimmen. — Man findet dieses Idol versteckt in einem Leistungsbegriff, der sich nicht an dem orientiert, was ein Mensch zu geben vermag, sondern daran, ob er einhält, was gefordert wird. Und um diese Norm zu erfüllen, werden noch immer Kinder geschlagen, neurotisiert und um die Chance zu ihrem Leben gebracht, alles in sogenannter Liebe, sie sollen sich schließlich in diesem schrecklichen Leben einmal durchsetzen können. Und wenn sie es nicht schaffen? Oder später: Wenn sie es nicht mehr schaffen? Im Ideal der Makellosigkeit, das aus seinem Verhältnis zum Chaos, zum Unvollendeten, zum Vermeidbaren herausgelöst ist, hat die Rassentheorie Zutritt zum faschistischen Staat erhalten. Dieses Ideal ist die Voraussetzung, um vom innerlich und äußerlich häßlichen Juden reden zu können, vom lebensunwerten Leben. Krankheit, vor allem psychische Krankheit — jetzt ereilt mich die Sprechgewohntheit - ist vor allem Protest, leidvoll erkaufter Protest. Vor dem Ideal der Makellosigkeit ist sie gar nichts oder das, was man ausrotten muß, indem man den ‚Träger‘ tötet (oder wenigstens so weit abschiebt, daß er für tot gehalten werden kann wie etwa in geschlossenen psychiatrischen Anstalten). Makellosigkeit, diese zu Stein gewordene Sehnsucht nach etwas, das, was immer sie ist, eines nicht ist: lebendiges Leben, ist vergöttertes Symbol des Todes. Nicht der Schweiß, das Blut oder die Tränen sprechen vom Tod, sondern das, wozu sich nichts mehr fügen läßt, wo jeder utopische Rest ausgespart und vernichtet ist. Wer immer davor steht — er kann sich nur mehr unterwerfen, um seinen Tod zu empfangen oder das Schicksal des Fremden, des Ausgestoßenen wählen, um einen anderen Tod zu erleiden. Und dennoch zollen wir höchstes Lob, wenn wir feststellen, daß sich nichts mehr hinzufügen, nichts mehr weglassen ließe. Diese Hermetik verherrlicht eine Beziehungslosigkeit, eine tödliche Einsamkeit, die nicht aus der Überfülle von Dingen und dem Mangel an Menschen entsteht oder aus einem erloschenen Vertrauen. Die