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schen als Entgelt für die verlorene Freiheit
neben Sicherheit die Entlastung aus der
Verantwortung, die Befreiung von Schuld
und vor allem die Erlösung aus der Einsam¬
keit gebracht habe. Aber von Verantwor¬
tung kann man nicht entlastet werden, es sei
denn, man entlastet den Menschen vom
Menschlichen. Es gibt auch keine kollekti¬
ve Befreiung von Schuld, wie es keine kol¬
lektive Schuld gibt. Was vielen oder wenig¬
stens manchen als Befreiung erschienen
sein mag, war der Ersatz des Erkennens und
des Erkennbaren durch einen gemeinsamen
Dämmerzustand, einen kollektiven Schlaf
der Vernunft, ohne irgendeine Differenzie¬
rung — das Scheinbild einer letzten Harmo¬
nie.

Tatsächlich, scheint mir, gibt es keine
größere und unheilvollere Einsamkeit als
die der Menschen im faschistischen und im
NS-Staat, die vor der Wahl stehen, sich
entweder von ihrem Leben trennen zu müs¬
sen, wenn sie ihrem Herzen folgen oder sich
von ihren Herzen — eben ihrem Leben — zu
trennen, wenn sie dem ‚‚Ideal“ zu folgen
versuchen. Der Mensch im Faschismus ist
einsam.

All diese Blicke zurück haben wenig Sinn,
wenn sie nicht mit dem Blick ins eigene
Innere gepaart werden.

In diesem Spiel, Geschichte vor ein Tribunal
zu bringen — wie immer — sind wir weder
Richter noch Ankläger, sondern Fragende.
Und dies mit gutem Grund. Denn wir sind, im
Nachfolgespiel dieser Geschichte, der leben¬
dige Einsatz, sozusagen mit Haut und Haaren.
Allerdings sind wir auch Antwortende.
Denn an irgendeinem erwarteten oder uner¬
warteten Punkt, mitten im Alltag, zwischen
Sonntagsspaziergängen, gehasteten We¬
gen, überblickten oder verlorenen Augen¬
blicken wird all das, was wir begreifen oder
nicht begreifen, zur Frage nach der Verant¬
wortbarkeit und der Verantwortlichkeit
werden.

“Man kann Vergangenheit nicht bewälti¬
gen, mann kann sie nur erkennen“, schrieb
Heinz Barazon in dem erwähnten Pressear¬
tikel — und er hat recht. Das Schlagwort von
der nötigen Bewältigung der Vergangen¬
heit, vom Wunsch getragen, daß sich — um
Gottes Willen — doch irgend etwas gut ma¬
chen ließe, ist zwar verständlich, aber den¬
noch ein Irrtum. Auch die Vorstellung, daß
man aus Geschichte lernen könne, dürfte
einem Irrtum entspringen. Wenn ja, warum
haben wir dann noch immer nicht? — Die
faschistischen Strategien leben in dem, was
wir heute etwas unklar Alltagsfaschismus

nennen und waren auch schon vor Hitler da,
in dem man kein Genie sehen sollte, das
auch nur einen Schritt über die Befindlich¬
keit der Zeit hinausgegangen ist, sondern
nur einen geschickten Manager vorhande¬
ner Gegebenheiten.

Mit dem Erkennen hingegen ließe sich et¬
was anfangen. Erkennen, das ginge viel¬
leicht. Ja, und dann?

Geschichte ist in dem Stückwerk, als das sie
uns bekannt wird, ein Sammelsurium von
Herrlichkeiten und Greueltaten, das nichts
zeigen kann als die weite Spanne, in der die
Möglichkeiten der Menschen liegen, im gu¬
ten wie im schlechten. Und diese Möglich¬
keiten liegen — ob uns das paßt oder nicht —
in der Spanne, die Menschen als das Wesen
begreifen läßt, ‚„‚das einerseits die KZs er¬
baut hat und andererseits mit aufrechtem
Kopfin diese KZs gegangen ist“, um es mit
Viktor Frankl zu sagen.

Wenn man dies akzeptieren kann, wird Ge¬
schichte zur Frage, wer man vorhat zu sein.
Und dies auch in der Fragestellung, so es
konkrete Situationen erfordern: Opfer oder
Täter. Die Entwicklung der Stellungnahmen
zur Schändung des Marsyas zeigt allerdings
einen verhängnisvollen Weg in Bezug aufdie
Beantwortung dieser Frage auf. Im allgemei¬
nen ist es in dieser fragwürdigen Kultur
schlimmer, nämlich dümmer, das Opfer zu
sein, während die Täter das Vorbild für strah¬
lendes Heldentum abgeben. '*

Die Parteinahme für Apollon und gegen
Marsyas entspringt nicht bloß dem Mißver¬
ständnis eines längst abgehalfterten My¬
thos, sondern ziemlich genau unserem ver¬
heerenden Menschenbild. Tüchtig soll der
moderne Mensch sein, gut funktionierend
weder Nachbarn noch Staat stören, gleich
um welchen Preis diese widerspruchsfreie
Ruhe erkauft wird. Blind für das, was Men¬
schen sein können, fordern wir zu allererst
und bis zu allerletzt die Erfüllung von Nor¬
men ein, die so willkürlich wie dumm sind.
Die Suche nach Identität ist zu etwas ver¬
kommen, das bloß dem eigenen Glück oder
reibungslosen Abläufen dienen soll. Immer
und überall Helden auch jenseits und wie in
der Trivialliteratur. Siegertypen, die vor¬
täuschen sollen, womit Menschen ge¬
täuscht werden. Was sind die Manager der
Multis doch für tolle Kerle. Alle Fäden
laufen in ihren Händen zusammen, bewun¬
dert und sogar verehrt füllen sie die
Klatschspalten der Illustrierten. — Bis sie
irgendein Leiden zur Aufgabe zwingt.
Seltsamerweise gelingt es ab da nicht ein¬
mal hervorragend gemachtem Schund, sie

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se Einsamkeit ist keine, aus der eine neue
Welt hervorbrechen könnte.

Es ist wiederholt behauptet worden, daß das
grausame Monster Staat in der pervertierten
Form des Nationalsozialismus den Men¬

11 Der Mensch, der nicht wollen und vor allem
nicht wünschen kann, dem sich jedes Ding dar¬
stellt als ein eben so Gegebenes, der sich jenseits
der Utopien befindet, sie weder entwerfen kann
noch will, weil er sich eben dem Gegebenen
unterwirft und es fraglos annimmt, ist in der
Geschichte kein handlungsfähiges Wesen. Und
als solch handlungsunfähigem Wesen ist ihm
Verantwortung kein Thema.

Erst in der Erweckung von Wunsch und Wollen,
angesichts der bewußt erlebten Sterblichkeit,
wodurch sie sich der Bedrohung durch den Tod
schon wieder entzieht, wird Verantwortung zum
Thema. In der schöpferischen Kreativität wird
die Frage nach der Verantwortung aktualisiert. In
der Revolte wird sie vollzogen. Sie macht ein¬
sam. Marsyas bleibt letzten Endes allein. Nie¬
mand vertritt seinen Standpunkt. Aber diese Ein¬
samkeit garantiert letzten Endes seine Indivi¬
dualität bis zum Schluß.

12 Das göttliche Prinzip der Griechen ist hier
nicht zu verwechseln mit „Natur“. Die Götter
der Griechen waren selbst Geschöpfe, Erschaffe¬
ne. Xenophanes wettert — frei übersetzt — gegen
diese Götter: „Und hätten wir Köpfe (Leiber) wie
Rinder, wir schüfen uns Götter wie Rinder“.
Das heißt, daß die Griechen selbst bald ahnten,
daß diese gesamte Götterwelt ihren Projektionen
entstammte, also Mythos sind, der nicht nur ei¬
nen soll, was bruchstückhaft erscheint, sondern
auch erklären soll, was anders — noch — nicht
verstanden werden konnte. — Mit diesen beiden
Beschreibungen scheint der Mythos allerdings
nicht ausreichend erfaßt. In gewisser Weise tritt
er auch als kodifiziertes, geheimes Wissen auf.
13 Wie grausam geradlinig dieses Gesetz sich
durchsetzt, mag die Reaktion Apollons auf Mi¬
das zeigen. Midas, Schiedsrichter im Wettstreit,
begeht die Unvorsichtigkeit, sein Mitleid mit
Marsyas offen auszudrücken. (Ja, warum hat er
Apollon gewinnen lassen — eben weil er das
Gegebene gleichzeitig als das Unvermeidliche
anerkennt. Geblendet von einer unglaublichen
Artistik, auch blind gegenüber dem Willen des
Apollon, keine Grenze anzuerkennen, die er sich
selbst setzen müßte — Macht, die sich selbst be¬
schränkt - mag er sich über die Folgen des Spru¬
ches nicht im klaren gewesen sein.) Apollon
bestraft das Mitleid, indem er Midas Eselsohren
verpaßt. Wer Mitleid hat, ist zumindest ein Esel,
später ein Volksfeind. Das scheint konsequent,
denn im Mitleid regt sich die Bereitschaft für das
Leben Stellung zu beziehen. Mitleid kann zur
Revolte führen, muß es eigentlich, will es sich
nicht in Gefühlsduselei erschöpfen.

14 Das hat nichts damit zu tun, daß man die
Menschen zumindest nicht völlig mißversteht,
wenn man sie als tätige, vor allem aber handelnde
Wesen beschreibt.