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26 uns weiter als Helden zu verkaufen. Plötzlich setzt etwas ein, das Kitsch schreit, und das konsequent. Leidende lassen sich nicht als Helden verkaufen. Plötzlich sehen wir, in welchem Luxus hier ein Leben zu Ende geht. — Hätte er halt früher ... Zum Schluß ist der Kerl selbst schuld. Ich habe diesen Managertyp als Beispiel gewählt, weil ich nicht annehme, daß er irgend jemandes Sympathien auf seiner Seite haben wird, es sei denn die seiner nahen Angehörigen. Und dennoch ... Wie steht es jetzt um unsere sogenannte Humanität? Warum kann sie sich nicht auch in diesem Fall über den Neid und die Schadenfreude erheben und dazu durchringen zu sagen, daß all unsere positiven Gefühle — was wohl nur heißen kann: all unsere Bejahung — grundsätzlich auf der Seite jedes “ Menschen stehen? Da ist plötzlich wieder die Anfangsfrage: In welcher Sprache reden? Wenn der Begriff „Alltagsfaschismus“ nicht nur polemischen Unsinn bedeutet, sondern berechtigte Anklage, dann kann man in einer Demokratie, die doch immerhin das politische System dieses Landes darstellt, nicht von einem von oben verordneten Faschismus reden. Dieses System schreibt uns im allgemeinen weder unsere bejahenden noch unsere verneinenden Gefühle vor. Wir haben ein „Antifaschismusgesetz“, das verhindern soll, daß altes Grauen neu entstehen kann. Sehr viel mehr kann ein System neben dem Versuch materieller Wiedergutmachung nicht leisten, der Rest, der große Rest muß von „‚unten“ kommen. Geschichte wird dadurch bekannt, daß sie erfragt wird. Jetzt fragen wir. Warum so spät? Warum nicht schon vor dem Holocaust? Oder anders gesagt: Was hat uns all die Jahrhunderte trotz aller vorübergehender Ausbruchsversuche des Mitleids und der Humanität so nahtlos bei der Stange gehalten, was hat uns so lang ein Denken goutieren lassen, das lieber trennt als vereint, das lieber verneint als bejaht? Die Sprache ist oberster und zugleich tiefster Ansatzpunkt. Sie weist uns aus. In einer gewissen Weise „‚macht“ sie uns, und wir „machen“ sie durch den Gebrauch. Aber wie gebrauchen wir sie denn? Viktor Frankl meinte einmal in einer seiner Vorlesungen, daß ein gar nicht so geringer Teil des menschlichen Jammers daher rühre, daß wir nicht wirklich Kritik üben können. Es sei wohl erlaubt, jemandem zu sagen, daß er/sie eben dumm gehandelt, töricht gesprochen habe, aber nicht, daß er/sie dumm und töricht sei. — Nun, diese Sensibilität ist uns längst abhanden gekommen. Es ist kürzer und wirkungsvoller, in Schlagworten zu operieren, egal, welche Verkürzungen dabei unternommen werden. Ein dummer Satz, und der ganze Mensch ist ein Dummkopf. Wieder einmal steht der Teil für das Ganze, das keine Chance mehr hat. Und wieder stehen wir vor einem Totalitätsanspruch, diesmal im alltäglichen, persönlichen Bereich. Diese verkürzenden und damit lügenhaften Redeweisen können wir nicht einmal auf die Massenmedien schieben. Das ist unsere eigene Sprache, in der wir nach dem Strickmuster der Widerspruchsfreiheit operieren. Denn in der Regel gelingt es uns eher schlecht, an einem Menschen Kritik zu üben und ihn gleichzeitig zu respektieren. — Dieser vorhin erwähnte Manager ist ein Scheusal, wir wissen zu genau, was diese Sorte von Leuten der Welt antut, aber als Leidender ist er dennoch ein armer Teufel. Es gibt vielleicht eine Zärtlichkeit des Denkens, die annehmen läßt, daß die Existenz eines Menschen genügen muß, um einen anderen zu dem Glauben zu veranlassen, es wäre gut so — sie muß erst kreiert werden. Es gibt vielleicht eine Zärtlichkeit der Sprache, die sich von den Verneinungen trennt - sie liegt in der Zukunft. Es wird vielleicht einmal Gruppen geben, die Grenzgänger weder als Irre noch als Verräter auffassen. Es wird vielleicht — irgendwann — einmal ein soziales Leben geben, das zu seinem Selbstverständnis nicht mehr Abgrenzungen heranzieht, sondern Übergänge und Fluktuation, Verwandlung und Weite. Wir werden vielleicht einmal lernen, den Blick auf das zu richten, was wir als gemeinsam erachten können — ich weiß es nicht. Aber man muß versuchen, daran zu glauben. Wie ja viel mehr das, woran Menschen glauben wollen, über ihre Zukunft entscheidet als das, was sie wissen. — Und obwohl der Versuch, Faschismus als Struktur zu sehen, meinen Pessimismus nicht verkleinert hat. Das Leben und die Menschen sind nicht häßlich, aber die Schönheit ist dunkel. Vielleicht haben wir eine Chance, den politischen Narren und Verbrechern ein Gegengewicht zu halten. Wenn wir diese Chance haben, dann jener wegen, die, obwohl man sie verhöhnt, gefoltert und vertrieben hat, wieder in dieses Land gekommen sind, um hier zu leben, die beschlossen haben zu bleiben. Geschichte, die vorgeblich etwas lehrt, ist ein Abstraktum. Was sie erkennbar macht, sind die lebenden Zeugen, die Gestalten, Gesichter und Stimmen. Daß sie — und das ist meine tiefste Überzeugung — wieder hier leben wollten, war nach dem Krieg trotz Marshallplan, Carepaketen und Staatsvertrag das Wichtigste, das dieses Land zum Geschenk erhalten hat. Es war die Chance, eine menschliche Identität wiederzufinden. Geschenke sollte man in Dankbarkeit und Liebe entgegennehmen und nicht bloß mit einem Lippenbekenntnis beantworten. — Vielleicht gelingt es — dann und wann, ehe es zu spät ist — dem einen oder anderen einen Teil der Last seiner Leiden abzunehmen, indem er glauben darf, daß dieses Leiden durchzustehen mehr als nur das nackte eigene Leben für eine ungewisse und wiederum nur bedrohliche Zukunft gerettet hat. Das aber hieße: glauben lassen können, daß wir nicht bloß eines blinden Zufalls von Geburtsort und Geburtszeitpunkt wegen keine Täter geworden sind. Reste einer Utopie Fotoausstellung von Willi Pechtl Vom 28. November bis 17. Dezember ist in Innsbruck, im AK-Bildungshaus Seehof, eine von der Biicherei Hungerburg veranstaltete Fotoausstellung von Willi Pechtl zu sehen: Reste einer Utopie. Die Jesuitenreduktionen in Lateinamerika. Die Ausstellung geht aufeine Reise zurück, die Pechtl, zeitweise gemeinsam mit Dagny und Nikolaus Henning, im August 1993 durch Argentinien, Paraguay und Brasilien unternommen hat. — Die Aufnahmen, Bilder von Landschaften, Baudenkmälern und Skulpturen, führen in eine farbige Welt voller Widersprüche, in der großangelegte Utopien ausgedacht, aber nahezu restlos zerstört worden sind.