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Ilse Pollack Tagebuch einer Reise „Siebzehn Stunden saß Leutnant Trotta im Zug. In der achtzehnten tauchte die östlichste Station der Monarchie auf.“ Heute dauert es wesentlich länger, denn es gibt zwei Grenzen. Nach der ungarisch-ukrainischen weitet sich der Horizont, in der Ferne die blauen Ausläufer der Karpaten. Der Zeiger ist um eine Stunde vorgerückt, und sehr bald wird es dunkel. Es gibt kein Licht mehr, außer dem, das der Blick hinter zugezogenen Vorhängen hie und da streift. Wir fahren durch eine Kleinstadt mit Baumalleen und unruhig gepflasterten Straßen. Sind wir denn wirklich da? Oder fahren wir an einem Foto vorbei, das sich, schon vergilbt, in einem Album befindet? Es ist Stryi, die Stadt, in der ein paar vergessene deutsch-jüdische Dichter geboren sind. Montag, 29. August „Die Städte überleben Völker, denen sie ihre Existenz verdanken, und Sprachen, in denen ihre Baumeister sich verstindigten“ , schrieb Joseph Roth 1924, Reporter für die „Frankfurter Zeitung“ , über ‚‚Lemberg, die Stadt“. Damals war sie seit sechs Jahren polnisch, aber man hörte noch immer auch deutsch, ruthenisch und jiddisch sprechen. Heute hört man ukrainisch und russisch, doch welcher Westeuropäer kann das schon unterscheiden? Im ehemaligen sowjetischen „Haus der Kultur“ hält sich trotzig der Rest eines Buch-Anitquariats. „Die Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte. Von Marathon bis Tschuschima“ , sowie: ,, Die Wunder des Meeres“ werden in deutscher Sprache angeboten. Strandgüter, gewiß, und dennoch nicht willkürlich in die Auslage geschwemmt: Die entscheidenden Schlachten dieses Jahrhunderts haben bewirkt, daß zwar nicht die Stadt, aber fast alle ihre ursprünglichen Bewohner verschwanden. Und auch die Wunder des Meeres haben die Stadt L’viv verlassen, in der ein steinerner Markuslöwe noch an den Konsul von Venedig erinnert, und Delphine an Hausfassaden von Handelswegen bis zum fernen Mittelmeer Kunde geben. Die heutigen über 800.000 Bewohner sind aus den umgebenden Dörfern und aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion zugezogen. 70 Prozent Ukrainer, 20 Prozent Russen und der Rest? Polen, Armenier, zugewanderte Ju den, denn die einheimischen lembergerischen, 30 Prozent der Bevölkerung vor dem Krieg, wurden von den Deutschen umgebracht. Daß Ukrainer an den Massakern beteiligt waren, ist ein Tabu geblieben, an das auch unsere Begleiterin nicht rühren mag. Dienstag, 30. August Unterwegs nach Brody. Im Autobus hören wir ukrainische Lieder, die es sonst nirgendwo zu kaufen gibt. Larissa, die Fremdenführerin, zitiert Joseph Roth: „Die Arnicht die Glücklichen, wie in westlichen Ländern. Deshalb sind die östlichen Lieder schöner, und wer ein Herz hat und sie hört, ist nahe dem Weinen.“ Wir fahren an Wäldern vorüber, und Larissa versichert uns, daß dort noch immer so gute Erdbeeren wachsen, wie Joseph Roth sie in seinem Romanfragment über die galizische Heimat beschrieben hat. Tschernobyl, an die 500 Kilometer entfernt, sei spurlos an ihnen vorübergegangen. Zu beiden Seiten dehnt sich endlos das Land. es scheint nur mehr Weide zu sein. Herden schwarzbunter Kühe, Ziegen „von semitischem Angesicht“, wie sie der Dichter Umberto Saba beschreibt, Gänse in Marschkolonnen. Und deren Hüter. Alte Frauen und Männer, Kinder, Jugendliche. Die Stadt Brody wird uns von Vladimir erklärt, der sich gründlich vorbereitet hat. Es war nicht unbedingt eine Lüge, wenn 27 Roth seinen Geburtsort mit Szwaby anzugeben pflegte. Denn so hieß schließlich ein Teil von Brody, seit sich die erste deutschsprachige Kolonie Ostgaliziens dort niederließ. „Brody erweckte eben keine angenehmen Assoziationen bei den Europäern“ , meint Vladimir. Was wußten diese schon von der glorreichen Tradition seiner Stadt, abwechselnd als „galizisches Triest“ und ‚‚neues Jerusalem“ bezeichnet. 70 Prozent betrug der jüdische Bevölkerungsanteil noch vor dem Krieg. Auch die jetzigen Bewohner wissen es nicht. Wir nähern uns dem Bahnhof. Er sei, weiß Vladimir, nicht mehr ganz derselbe, an dem Trotta und Roth aus- bzw. einzusteigen pflegten. Die Warenlager rechts und links von den Geleisen sind verschwunden, doch Vladimir beruhigt uns: „Das Leben geht auch heute weiter, wie Sie sehen. Vielleicht nicht so rege wie-damals, aber doch.“ Im Stadtmuseum sind alte Postkarten ausgestellt. Sie zeigen die hiesigen Sehenswiirdigkeiten, so wie sie auch Roth im „Radetzkymarsch“ erwähnt. Das imposante Gebäude des Bezirksgerichts, die römische und griechische Kirche hingegen die große Synagoge sich selbst als Ruine überlebt. Wo Leutnant Trotta sein Geld verspielte, ist heute ein Kindercafe. Aus dem Stadtpark ist der Pavillon verschwunden, in dem eine blonde Dame den örtlichen Knaben die Liebe lehrte. Ein neues Denkmal steht hier. Nach dem Dichter aus Roths Zeiten war Lenin gekommen und gegangen. Heute gedenkt man der Opfer des Stalinismus. Abends kreisen Schwärme von Raben über dem Park. Sie waren schon immer hier, denn sie werden dreihundert Jahre alt, sagt Vladimir. Mine