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32 ein prächtiges Grab auf dem neuen Friedhof. Wir kommen an einem Laden vorbei, der in blauen hebräischen Lettern Lebensmittel, in cyrillischen ,,Sexyshop“ und in einem roten Stern gar das lateinische Wort ‚‚Sex“ verkündet. Doch Herrn G.s Blick ist in die Ferne gerichtet, er treibt zur Eile an. Nächste Woche wird er nach Wien fahren — was soll ihm da unser Erstaunen. Gibt es in Wien vielleicht nicht Bedürfnisse solcher Art? Die Führung durch Czernowitz hat sein um zwanzig Jahre jüngerer jüdischer Mitbürger und genaues Gegenteil, Herr Z., übernommen. Sein schon im Kindesalter von der Zukunft abgeschnittenes Leben hat sich bis in die Körperhaltung eingeprägt. Das Gesicht ist abgezehrt und wird von zwei großen Kummerfalten durchschnitten. Der Mund wacht in bitterer Strenge, daß die Augen nichts von der Zärtlichkeit verraten, die es irgendwo verschüttet in ihm gibt. Und selbst das schüttere Haar hat nur der Trauer zu dienen. Schwarz eingefärbt ist die vorderste Strähne und quer über die hohe Stirn gelegt, als würdige, endgültige Umrahmung. Herr Z. hat als Jugendlicher den Krieg versteckt in einer Wohnung überlebt. ‚Die Russen haben uns drei Monate zu früh befreit, sonst wäre ich nach Palästina gegangen.“ Er wurde in Tschernowzy Chemieingenieur, ist seit kurzem pensioniert. Daneben hat er weitere Berufe. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine hat sich sein, ein ganzes Leben lang erspartes Geld in Luft aufgelöst, obwohl es noch auf der Bank liegt. ,, Vor zwei Jahren hatte ich mir damit ein Auto oder zehn Farbfernseher kaufen können. Heute gerade ein Kilo der schlechtesten Wurst.“ Vielleicht ist Herr Z. einer der letzten, der um die Geschichte der Czernowitzer Häuser Bescheid weiß, aus einer Zeit, da die Muttersprache für viele noch nicht die Sprache der Mörder war. „Kinotheater“ prangt ein Schild auf der ehemaligen großen Synagoge, die die Deutschen vergeblich zu sprengen versuchten. „Mit Feuerwehrpumpen wurde Benzin hineingeschüttet, das Innere ist ausgebrannt.“ In dem ehemaligen Gotteshaus, das jenen Juden vorbehalten gewesen sein soll, die mit dem vorschriftsgemäßen Frack und Zylinder dort eintreten konnten, begann die Karriere des Sängers Joseph Schmidt, der später Weltruhm erlangte und dennoch vergessen während der Schreckenszeit in einem Schweizer Internierungslager starb. Worüber Herr Z. auch spricht, stets geschieht es leise und in gleichförmigem Ton, als diene er einer etwas zwielichtigen Wissenschaft. Sie beginnt ja auch erst langsam anerkannt zu werden, obwohl Herr Z. sich schon ein Leben lang mit ihr beschäftigt: Das, was geschehen ist, festzuhalten in Zeugnissen jeglicher Art. Die sich dafür interessieren, kommen seit drei Jahren, seit die Grenzen sich geöffnet haben, mehr oder weniger regelmäßig zu ihm. Wenn auch nur im Sommer, denn wer würde wohl die Strapazen des Winters nur um des Anhörens von Geschichten willen auf sich nehmen? Für uns, die fliegenden Touristen, muß Herr Z. alles in einem Tag komprimieren. Zum Glück weigert er sich nicht, denn der allerneueste Führer der Stadt, 1991 herausgegeben, hülfe uns wenig, auch wenn wir Russisch verstünden. Dort ist die Stadt Czernowitz immer noch beschrieben, als hätte es in ihr nie eine jüdische Geschichte gegeben. Einige alte Postkarten aus der Zeit der Monarchie sind in diesem Jahr Eins der ukrainischen Unabhängigkeit abgebildet worden. Mit Herrn Z. gehen wir an den veränderten Ansichten vorbei. Der Hauptbahnhof, die wartenden Pferdedroschken vor ihm sind verschwunden. Und wen bewacht der russische Panzer am oberen Ende der vormaligen K.u.K. Eisenbahnstation? Häuser, in denen es einmal Sozialwohnungen für die Eisenbahner gab, sie wurden von Großvater Z. gebaut. „Und dieses Haus war das letzte, das mein Vater gebaut hat“, sagt Herr Z. vor einem eleganten Eckhaus aus den dreißiger Jahren. Es steht am oberen Ende der Straße, in der Paul Celan geboren wurde. Seit kurzem gibt es eine Gedenktafel in deutscher und ukrainischer Sprache an diesem Haus. Im Stiegenflur ist es dunkel und ein unerträglicher Geruch steigt in die Nase. Im Hinterhof liegt ein blasser Säugling in einem Kinderwagen. Keine Erinnerung mehr. „Aus fernem, aus traumgeschwärztem / Hain weht uns an das Verhauchte, / und das Versäumte geht um, groß wie die Schemen der Zukunft.“ In unserem Stadtführer, der nicht einmal zu berichten weiß, daß das ,,Stadtkino“ einst der „Große Tempel“ der Juden war, ist die Fahne einer deutschen Burschenschaft abgebildet, mit dem Wappen der „Landeshauptstadt Czernowitz“ und dem unvermeidlichen ,, Viribus unitis“. Auch Vater Z. habe bis 1939 der schlagenden Burschenschaft „Arminia“ angehört, dann sei er jedoch ausgetreten, zum (vorläufigen) Bedauern des Vereins, der ihm deswegen noch einen Brief geschickt, den Herr Z. aufbewahrt. 1919 wurde Czernowitz rumänisch, 1939 russisch. Vor der evangelischen Kirche stand ein Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges es wurde nach dem Zweiten vernichtet. Wir stehen auf dem früheren Hauptplatz der Stadt, er sei von den Russen 1941, vor ihrem Abzug, teilweise zerstört worden. Das einst eleganteste Hotel, der ,,Schwarze Adler“, ist noch immer Hotel, doch für