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Vladimir Vertlib

Petersburger Interieur
(Nach einer Reise)

Meine Lieben! Ich schreibe diesen Brief,
doch hoffe ich, daß Ihr zum Zeitpunkt seines
Eintreffens die Nachricht vom Ableben M.’s
schon erhalten haben werdet. Nehmt hier¬
mit auch unser Beileid entgegen und das
aller Verwandten und Freunde, von denen
nunmehr nur noch sehr wenige geblieben
sind...

schrieb meine Tante nach dem Tod meiner
Großmutter.

Meine Großmutter wurde vierundachtzig
Jahre alt. Dann starb sie, Ende 1993, nach
langer Krankheit und unter großen Schmer¬
zen. Kurz vor ihrem Tod hatte ich das
Glück, sie noch einmal sehen zu können.
Sie hätte sich auf mein Kommen gefreut,
und für mich war es die erste Reise in meine
Geburtsstadt, seit ich sie in frühester Kind¬
heit verlassen hatte.

Als der Zug sich der Stadt näherte, war ich
eingeschlafen und verschliefdie Vororte. In

einem von ihnen hatte ich die ersten Jahre
meines Lebens verbracht.

St.Petersburg, „‚Finnländischer Bahnhof“.
Der aus dem Ausland kommende Zug wird
auf ein Seitengeleis dirigiert und bleibt ne¬
ben einer länglichen, barackenartigen Kon¬
struktion stehen, in der sich Kassen, ver¬
schlagartige Kioske und ein Warteraum be¬
finden. Man sieht aber nur wenige Warten¬
de. Als ich aussteige, erkenne ich im Au¬
genwinkel den Bahnhof - eine schachtelar¬
tige Betonbausünde — kurz bevor zwei leib¬
haftig gewordene Bilder vor mir erschei¬
nen, Photographien besser gesagt: Mein
Onkel Aaron, eingehüllt in einen dunklen,
abgewetzten Regenmantel, Marke Nach¬
kriegszeit, und ein Käppi, das seinen kahlen
Kopf bedeckt. Er lächelt verlegen, erkennt
mich sofort — auch ich ein lebendes Photo —
und ergreift meinen Koffer. Mein Cousin,
dessen Entwicklung ich mitverfolgen konn¬
te — junger Pionier mit falsch gebundener,
roter Krawatte, linkischer Studienanfänger

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im Kreise seiner Kollegen, finster und ab¬
wehrend dreinschauend, dann, später, mit
Vater und Großmutter vor einem monu¬
mental wirkenden Bauwerk stehend,
schließlich auf dem ersten Farbphoto - al¬
ternder Junggeselle mit forschreitender
Glatze und früh ergrauten Schläfen.

Übliche Verlegenheitsfragen über die
Fahrt. Dann werde ich am Bahnhof vorbei
zur Metrostation geschleust, das Begrü¬
Bungsmahl stehe schon bereit. Und die
Großmutter sei schon so aufgeregt, daß sie,
nach drei durchwachten Nächten, An¬
spruch habe, sofort angerufen zu werden.
Die Telephonzellen wecken Nostalgiege¬
fühle, ich denke an die Filmreihe „Zum
Wiedersehen“ am Samstagnachmittag im
österreichischen Fernsehen, die alten Fil¬
me, die ich als Kind sehen mußte, weil es
sonst nichts gab. Die Verbindung klappt
erst beim fünften Mal und reißt, noch ehe
ich etwas krampfhaft Fröhliches von mir
geben kann, wieder ab. Ich verstehe nicht,
was die Großmutter meint. Besorgtes Mur¬
meln am anderen Ende der Leitung. Versu¬
che meiner Stimme trotzt steigender Nervo¬
sität und Unsicherheit einen selbstsicheren
und lockeren Ton zu geben. Zu spät.

Ich schaue mich nochmals um. Als die
DDR ihrem Ende zuging, schrieb ein