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36 scharfsinniger Journalist, daß dort jedes zweite Jahrzehnt ausgefallen war, eigentlich ausgefallen wurde, wenn man präzise sein will. Auf die 50er Jahre folgten die 70er, dann kam die Wende. Die Sowjetunion übersprang gleich drei Jahrzehnte, das war billiger. Die 50er Jahre gingen über in die 90er. Plakate werben für die Computerisierung von Kleinbetrieben, für Videorekorder und Haushaltsgeräte der Firma „Siemens“, während sich die Massen unter einem Plakat, das eine halbe Häuserfront in Anspruch nimmt, mürrisch in einen klapprigen Bus drängen, der bald auf die Seite zu kippen droht, sich dann überraschenderweise aber doch in Bewegung setzt. Vorbei geht es an abbröckelnden Fassaden über einen Asphalt, durchgetreten, zerstört von Saurierfüßen, hinunter in den Schlund der Metro. Ich muß mich beeilen, denn die Menschen mit ihren verbitterten, käsigen Gesichtern verstehen keinen Spaß, und ich lerne, daß Freundlichkeit ein Hohn ist, die muß man sich erst leisten können. Auf die höfliche Entschuldigung für ein begangenes Verbrechen (das Betreten eines fremden Zehens) folgt ein Stoß, dann ein Schlag mit der Wipptüre, nach der selbstverständlichen, wenn auch irrtümlichen Annahme, daß diese für den Nachkommenden aufgehalten wird. Ohrenbetäubendes Knattern der hölzernen Rolltreppen, und schon zieht ein überlebensgroßes Leninmosaik an mir vorbei. Der große Führer der Weltrevolution hat glänzende Augen und weist mit seiner ausgestreckten Rechten in die Niederungen der hellen Zukunft — auf die ,,Marlboro“ -Werbung auf der anderen Seite des Tunnels. Das Gestern und das Heute ergänzen sich vorzüglich. Der erbarmungslose Nahnkampf vor der viel zu engen Metrowagentür ist ein gutes Training. Mein Rucksack hilft mir, ich habe ihn abgenommen, verwende ihn als Rammbock und verschaffe mir auf diese Weise Respekt. ,, Achtung, Türen schließen!“ Mein Onkel und mein Cousin erklären mir, wie man die öffentlichen Verkehrsmittel benützen soll. Bald weiß ich, warum ich schon auf den ersten Blick als Ausländer zu erkennen bin. „Es ist der Respekt vor den anderen und die Selbstsicherheit,““ wird mein Cousin später sagen und zynisch lächeln. „Jemanden den Vortritt zu lassen, im Bus Abstand halten zu wollen, anstatt nachzurücken bis man nicht mehr atmen kann.“ Nein, man kann sich natürlich nicht darauf ausreden, daß jedes Land seine Sitten hat. . obwohl ich davon überzeugt bin, daß mein Bericht etwas unklar und verworren ausfallen wird, da ja noch so wenig Zeit vergangen ist. Vieles gerät durcheinander, und im Kopf herrscht (so wie im Leben) ein großes Chaos... * Seit ich denken kann, war mir das Zugfahren ein besonderes Erlebnis. Und es war nicht nur das Vorbeigleiten der Stationen in der Nacht, die Faszination der in der Ferne auftauchenden Lichter, die größer und stärker wurden, schließlich die ganze Erde zu überfluten schienen, manchmal das Quietschen der Bremsen, dann das Reibgeräusch von Metall an Metall und der Ruck, der einen zurückschleudert in den Sitz, ein verschlafenener Provinzbahnhof mit alten Arkaden, abblätternder Fassade und herabgelassenen Rollläden der Geschäfte und Tabakläden, die einen wie tot anstarren und den Eindruck erwecken, sie wären schon seit Jahrhunderten geschlossen. Ein vorbeieilender Beamter, meist mitroter (oder blauer oder grüner) Mütze und roten Augen, eine dumpfe, etwas bedrohlich wirkende Lautsprecheransage, die klingt, als käme sie aus einer weit entfernten geheimnisvollen Zentrale, deren Durchsagen immer unverständlich bleiben, die paar gähnenden Gestalten mit Koffern und Rucksäkken, sich unsicheren Schritts, nach langem Sitzen oder. unbequemem Liegen im Abteil, zum Taxistandplatz schleppend, noch nicht zu begreifend, daß sie zuhause sind. Schließlich der Pfiff und das Weggleiten des Bahnhofs, verbunden mit dem Knattern der verschwindenden Buchstaben auf der automatischen Anzeigetafel am Bahnsteig, so als wäre der Zug nun aufeiner unbekannten Route und die Anzeige des Zielortes nur ein momentan notwendiger Schwindel gewesen. Obwohl ich, wie mir scheint, schon zwanzig Jahre unterwegs bin, werden die Zielbahnhöfe doch angeblich meistens erreicht. Und auf jeder Reise wiederholt sich dasselbe. Als ich auf meiner Fahrt nach Rußland Kopenhagen erreiche, eile ich mit dem gesamten Gepäck die Stufen hinauf, an einer Baustelle vorbei, in die Haupthalle — ein altes Gemäuer, Backsteingotik der Jahrhundertwende, ein Rad mit Krone und Flügeln, darunter eine längere Aufschrift zu Ehren eines mir unbekannten Königs. „Der Bahnhof ist schon einmal sympathisch“, denke ich. Ich begebe mich ins Freie und betrachte den am Bahnhof vorbeibrausenden Verkehr, in der Ferne die Silhouette der Stadt, die im Nebel zu versinken scheint. ,,Ja, hier lieBe sich vielleicht leben“, tiberlege ich, ,,warum wir, meine Familie und ich, nur nicht nach Danemark eingewandert sind? Wenn ich hier aufgewachsen ware?!“ Und seufze tiefund gehe wieder in die Halle zurtick. Zehn Stunden später bin ich in Stockholm. Der Zug fährt in eine unterirdische Halle ein, die aussieht wie eine überdimensional große Station der Untergrundbahn. Ich eile mit dem gesamten Gepäck die Stufen hinauf, durch einen engen Gang und an glänzenden, weißen Plastikwänden entlang in eine moderne Halle aus Beton und Glas, Supermärkte, Banken, Wechselstuben. „Der Bahnhof ist schon mal sympathisch“, denke ich. Draußen erkennt man noch die alte Bahnhofsfassade, und da sehe ich es wieder, das Rad mit den Flügeln, aber diesmal eine andere Krone und im Text wird ein anderer König erwähnt, die Silhoutte der Stadt versinkt nicht im Nebel sondern in der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht, nur die Lichter lassen ein paar Straßenzüge erkennen. „‚Ja, hier ließe sich vielleicht leben,“ denke ich weiter, „warum wir nur nicht nach Schweden eingewandert sind? Wenn ich hier aufgewachsen wäre?!“... Und seufze tief... . und es kam zu eines Art Trübung des Verstandes (so versuchte sie die Bücherregale am Gang zu zerstören, lief völlig nackt in der Wohnung herum, dann begann sie aus irgendeinem Grund auf das Nachtkästchen zu klettern, auf dem der kleine Fernseher steht)... * Auch der Verlust der Heimatstadt Leningrad erfolgte durch eine Zugreise, damals, als wir aus Rußland emigrierten, meine EItern und ich. Wir fuhren nach Moskau, von wo es dann mit dem Flugzeug weiterging. An diesen Abend erinnere ich mich genau. Man hatte mir, einem Kind von erst fünf Jahren, nicht gesagt, daß wir auswanderten. Ich ging in den Kindergarten, jegliches Geplauder hätte gefährlich werden können. In der Sowjetunion der siebziger Jahre war die organisierte Feindseligkeit noch allmächtig, bis hinunter in die Kindergärten. Statt dessen hieß es, wir gingen auf eine lange Reise, ein Begriff, der neutral genug war