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38 „Deine Tante ist ein guter Mensch“ , schreit sie, „aber sie ist falsch, sie verstellt sich. Was immer sie tut, ist nur Theater. Was hältst du von ihr?“ Ich weiß, daß mich die Tante als Kind sehr gern gehabt hat, so wurde es mir erzählt. Als erwachsender Mensch habe ich sie vor ein paar Tagen zum ersten Mal wiedergesehen. „Sie war nett zu mir“, sage ich. „Ja, ja, zu dir ist sie nett“, sagt die Großmutter, ,,doch nur weil du aus dem Westen kommst und ihr Geld und auch andere Sachen mitbringst, ja... Einmal ging sie am Abend weg, da frage ich sie, wohin sie denn gehe. Sie antwortet: “Ist Ihnen das nicht egal, ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!’ Kann man so antworten? Sie hat keine Kultur, die liebe Frau.“ Und dann beginnt ein lautes Lamento. Daß man ihr nie genau sage, wer wo und zu welcher Zeit weggehe, daß sie nie den genauen Zeitpunkt der Rückkehr erfahre, daß sie allein und verlassen sei. Tante und Onkel sitzen im Nebenzimmer und ich höre ihre wütenden Stimmen. Alsbald ist das Wichtigste erzählt und Großmutter im Bett eingeschlafen, während Fernseher und Radio unaufhörlich weiterlaufen. Ich verstehe die Aufregung und die Ängste dieser alten Frau nur zu gut, denn ich glaube, in ihnen meine eigene Zukunft zu erkennen. Manchmal bemerke ich mit Entsetzen, daß die Psychosen meiner Großmutter bei mir alle schon im Ansatz vorhanden sind, diese Sicherheitsmanie und die Sucht, alles unter Kontrolle zu halten, die schließlich unweigerlich und folgerichtig in eine wütende Ohnmacht führt. Ich kenne das alles. Was wird sein, wenn ich erst Achtzig bin? Ich bemerke, wie die Großmutter die eigene Zersetzung und schließlich wohl auch den Tod wegzutelephonieren versucht und in immer stärkere Verzweiflung über ihr ständiges Scheitern schlittert. Wir ließen den Notarzt kommen, doch auch der war nicht in der Lage, die Kranke zu beruhigen. Kurz darauf fiel sie in einen komaartigen Zustand, was keineswegs einen positiven Ausgang versprach. Doch als sie allmählich wieder zu sprechen begann, auch aufzustehen (und das darf man auf keinem Fall tun) — hin und wieder war sie auch etwas gewalttätig — kamen die Ärzte, und jeder hatte eine andere Meinung. Sie hatte einen guten Appetit, deshalb erstarkte sie bald, und nach drei Wochen begann sie sehr aktiv in der Wohnung herumzuspazieren. Alle Versuche, diese impulsiven Aktivitäten zu unterbinden, denn sie verausgabte sich sehr, stießen auf Widerstand, meistens mit den Worten: „Ich werde dich nicht um Erlaubnis fragen, ich weiß selber, was ich tun muß!“ * Im trauten Heim hält man am Altbewährten und Liebgewonnenen fest, gezwungenermaßen, versuche ich zu glauben. Das geometrische Muster der rosafarbenen Tapeten, die schweren Vorhänge, das hellbraune Sofa, das das halbe Wohnzimmer beherrscht, das ohnehin verstellt ist mit schweren Möbeln und in der Mitte dem Tisch, der fast an die Wand reicht, sodaß man sich mit dem Rücken an die Wand pressen und seitlich gehen muß, um von einer Ecke in die andere zu gelangen. Und über allem ein hellgelber Lampenschirm mit staubigen Fransen. Nicht zu vergessen den dunkelroten Wandteppich, die ebenfalls an der Wand hängenden Zierteller aus Porzellan, das Bild mit dem Segelschiffund der im Meer untergehenden Sonne. Onkel und Tante haben einen Monatslohn ausgegeben, um dem reichen Gast aus dem Westen ein angemessenes Festessen zu bieten, Pasteten, faschierte Laibchen, Fisch, Obstund Gemüse. Das Leben sei gefährlich und unberechenbar geworden. Am Abend auszugehen könne das Leben kosten. Wer die Gefahren mißachte, sei selber schuld. In den folgenden drei Wochen werde ich ständig auf der Hut sein und mich öfters umschauen. Später werde ich noch einige Zeit brauchen, um dieses Verhalten abzulegen. „Der Sohn der Nachbarin, ein junger Mann in deinem Alter,“ sagt die Großmutter und hält mich am Ärmel fest, als wollte ich davonlaufen, „ist vor zwei‘ Wochen verschwunden. Er ist in der Früh zur Arbeit gegangen und ist nicht mehr wiedergekommen... Alle glauben, man hat ihn ermordet, so viele werden jetzt umgebracht.“ „Ich habe meine ganzen Ersparnisse für eine neue Tür und ein Sicherheitsschloß ausgegeben“, sagt der Onkel. „‚Irgendwie habe ich das Geld ja anlegen müssen, sonst hätte die Inflation alles aufgefressen. Noch zwei Monate, und ich hätte nur ein Kilo Bananen dafür bekommen.“ In der Früh stand sie noch halb im Schlaf auf, verrichtete ihre gesamte große und kleine Notdurft auf den Boden, wo wir sie dann auch fanden und wieder aufs Bett zerrten. Diesmal war sie überhaupt nicht gewalttätig, sie war bei vollem Bewußtsein, doch ohne sprechen zu können, was sehr qualvoll war. Langsam lernte ich herauszufinden, was sie wollte, sie jedoch verstand immer alles. * Ein obligater Besuch für jeden Petersburgreisenden ist Petrodworetz, Schloß und Schloßpark am Meer. Kanäle, Springbrunnen, Lustschlösser, Seen, alle Verwandten hatten von Petrodworetz geschwärmt. Ich sitze mit meinem Cousin Robert im Vorortezug. Uns gegenüber eine dürre Frau mittleren Alters in wattiertem Anorak, Stiefeln, selbstgestricktem Häubchen. Es ist Herbst; zuerst zieht es nur, dann saust der Wind durch die zum Teil eingeschlagenen Fensterscheiben und die undichten Türen. Die Frau hat eine rote Nase und müde Augen, blaue Ringe um die Augen, sie riecht nach Alkohol. Schwielen und Risse an den leicht zittrigen Händen. Ich kann mich nicht zurückhalten und muß diese Hände ohne Unterlaß anstarren, wie von selbst kommt mein Blick immer wieder dorthin zurück. „Das ist von der Gartenarbeit“, sagt die Frau plötzlich, was mir unangenehm ist, denn ich möchte nicht reden. ‚Ich habe da ein kleines Grundstück, wo ich Kartoffel und Gemüse ziehe, das hilft mir über die Runden.“ Mein Cousin kommt mit ihr ins Gespräch, erfährt, daß sie eigentlich Maschinenbauingenieurin ist, aber mit ihrem Gehalt nicht auskommt. Die Frau schimpft unflätig, als sie auf ihre Geldprobleme zu sprechen kommt, beschwert sich bitter über die Verhältnisse im Land und verweist auf die Nachbarstaaten, das sogenannte „Nahe Ausland“. „Schauen Sie doch nach Estland“, sagt sie. „Keine Inflation, die Währung ist stabiler als die Deutsche Mark.“ „Und warum?“ ertönt eine männliche Stimme hinter meinem Ohr, sodaß ich für einen Augenblick erschrecke. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen älteren, blonden Mann, mit hoher Stirn, eingefallenen Wangen. „Weil sie eine Regierung haben, die ihr Volk liebt, diese Esten“,, sagt er. ,, Nicht wie unser Präsident, dieser Säufer Jelzin.“ „Ach so?“ meldet sich ein weiterer Passagier zu Wort. „Haben Sie mit ihm zusammen gesoffen, daß Sie das wissen und daß Sie so urteilen können?“ „Du sei still da hinten, mit dir wird nicht geredet. Ich rede mit den Herrschaften hier, nicht mir dir und deinesgleichen.“