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„Zigeuner“ wollten die Roma nicht mehr genannt werden, weil sie hofften mit dem Namen die Verachtung abzulegen, die sie jahrhundertelang ertragen haben und endlich los werden wollten. Ist das gelungen? Konnte es gelingen? Kaum, meine ich. Heute ist in. so manchen Ländern das Wort längst zum ärgeren Schimpfwort geworden als ‘Zigeuner’ es jemals war. ‘Zigeuner’ konnten wenigstens auch geigen und romantische Märchen erzählen. Roma gelten in West und Ost immer mehr als Schmarotzer. Alle, besonders die ehemals kommunistischen Staaten wären sie gerne los. Österreich freilich gesteht sich das selbst nicht ein, Österreich ist - wieder einmal-nicht schuld. Nach einer kurzen Schreckminute, in der den Roma sogar nach dem Mordanschlag in Oberwart eine Art Selbstmord nachgewiesen werden sollte, überhäufte man die kleine Schar der autochtonen Roma des Landes mit echtem Mitgefühl und noch sehr viel mehr mit Krokodilstränen. Schnell wurde erkannt, daß es relativ wenig kostet, die etwa 5000 Nachkommen der KZ-Überlebenden ein bißchen besser zu schützen und zu fördern als bisher. Eine solche Investition verschafft dem Land guten Ruf — und dient schließlich vor allem auch der eigenen Sicherheit. ,,Sind diese Roma nicht echte Österreicher wie wir? Ist nicht höchste Zeit die Sicherheitskräfte zu verstärken auf daß sie uns alle besser schützen?“ Auf noch ein bißchen mehr ‘law and order’ dürften die Bombenleger freilich gut vorbereitet sein. Wer immer weniger entkommen kann, ist nur die überwiegende Mehrzahl der ‘Zigeuner’, die seit vielen Jahren in Osterreich leben. Sie stellten zum Beispiel etwa 80 Prozent des schlecht bezahlten Personals von Reinigungsfirmen, waren ehemals hochwillkommene Bauhilfsarbeiter und sind jetzt die ersten Opfer der brutalsten Ausländergesetzgebung Europas geworden. Auch diese Roma sind erschrocken, sie bleiben noch mehr unter sich und trauen niemandem. Ihre Kinder haben in Österreich lesen und schreiben gelernt wie Sladjana, die fünf Jahre in Wien in die Schule ging, ein Jahr davon allerdings schon nach dem schulpflichtigen Alter. Sie bekommt keine Arbeitsgenehmigung, die bereits angetretene Lehrstelle darf sie deshalb nicht behalten. Sladjanas Aufenthaltsbewilligung wird nicht verlängert werden, weil sie nicht arbeitet, sie wird Österreichs verwiesen werden und „zurück“ geschickt in ein Land, dessen Sprache sie kaum mehr spricht, das ihr nichts zu bieten hat als eine kriminelle Laufbahn und zunehmenden Rassenhaß. Zu Silvester 1993/94 wurde ein sechzehnjähriger Rom-Bub von einem Österreicher, der ‘Mein Kampf’ in seinem Bücherschrank bewahrt, auf offener Straße mit einem Wehrmachtsbajonett erstochen. Der Bub hatte, wie viele andere in dieser Nacht, mit seinem 10jährigen Bruder Knallkörper auf der Straße geworfen. Etwa um dieselbe Stunde wurde in Wien in ein Lokal scharf geschossen, in dem Roma feierten. Diese Betroffenen waren freilich nur Roma in Österreich, keine echten Österreicher. Österreich ist ein reiches Land, niemand verlangt, daß es die Grenzen gegen Osten offen halten und ganz Rußland aufnehmen soll. Ich mag aber nicht glauben, daß hier die Menschen nicht bereit wären alle aufzunehmen, die sich seit Jahren hier aufhalten, getraute sich nur einer der Entscheidungsträger, ihnen zu schildern, was die Menschen erwartet, denen in Österreich die Türe gewiesen wird. Ich kann nicht aufhören mich zu fragen, wie denn in den dreißiger Jahren in unserer Stadt langsam aus Nachbarn Unmenschen wurden, die nicht mehr wert waren ihr Leben zu leben. Renata Erich INHALT Renata Erich: „Zigeuner“... S.2 Anna Mitgutsch: Die Morde von Oberwart und unsere Demokratie S.3 Matthias Schmelzer: ,,Den Weg der Öffnung gehen“. Ein Porträt des Oberwarter Roma-Sprechers Stefan Horvath S.5 Fred Wander: Paris, September 1939. Aus der unveröffentlichten Autobiographie ‚Das gute Leben“. Mit einer Notiz von Stephan Steiner S.7 Silke Hassler/Peter Turrini: ,,Jakov Lind — Textportrait“. Mit einem Bericht tiber das ,, Literatursymposion Jakov Lind“ S.11 Ruth Roduner-Griininger: Ein paar Worte iiber meinen Vater Paul Grüninger. (Mit Neuem zu ‚Grüningers Fall“) S.16 Edith Kramer: Verzauberung — Entzauberung. (Uber Elisabeth Viertel-Neumann) S.18 Ernst Eisenmayer: Erinnerungen an Erich Fried, 1938 -1988 5.19 Lina Loos: Allererste Kindheitserlebnisse S.21 Ilse Pollack: ,, Jerusalemherzpochen“ — auf den Spuren von Else Lasker Schüler $.22 Gerhard Scheit: Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick Ernst Jünger sich erbaut S.25 Peter Malina: Lebensgeschichte und Zeit-Geschichte. Uber den Schriftsteller Herbert Kuhner; ,,... und dennoch ist es oft zum Ersticken hier“ S.29, S.31 Richard Kovacevic: Hermann Hakel - Beobachter und Beschreiber 5.32 Walther Jary: Florian Kalbeck — 75 Jahre §.35 Gedichte von Agnes Hoertler (“Mai 1955“, S.10), Herbert Kuhner (“Meine Großmutter“, 5.30). Briefe von Eva Brück, Harry Zohn, Gottfried Achberger, Herbert Steiner, Andrea Lauritsch, Peter Gstettner 5.43 Rezensionen über Bücher von Ernst Kein (K.K., S.10), Theodor Kramer/Fritz Brainin (K.K., S.13), Lina Loos (S.B., 8.21), Vladimir Vertlib (Michaela Hasenauer, S.34), Armin A. Wallas (E. Adunka, S.40), Muhidin Saric und Goran Todorovic (B. Kuschey, S.41); Buchzugdnge (S.42). Notizen, Berichte über ‚Ein Fest für Zwetkoff“ (Johann Holzner, 5.8), Ludwig Czech zum 125. Geburtstag (Dora Müller, 5.37), Richard Berczeller-Symposion (Matthias Schmelzer, S.37), Isidor Kaufmann-Ausstellung (E. Adunka, §.38), Exilliteraturforschung in Großbritannien (Andrea Reiter, S.38), Symposion Macht Literatur Krieg (Karl Müller, 5.39), Tanztheater S. Hajdu (K.K., S.42); Berichtigungen (S.36). Impressum S.44