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habe immer wieder alles auf meinen Reisen zurückgelassen, Ballast abgeworfen, und ich habe immer große Bedenken, ein Interview zu geben oder von mir überhaupt irgendetwas aufzuschreiben und muß mich dazu überwinden, es dennoch zu tun, weil ich auch oft dieses Gefühl habe, aus dieser Welt ist es am besten lautlos zu verschwinden und keine Spur zuriickzulassen.“ Dennoch fiigen sich die vielen Geschichten zu einer Geschichte, wird aus den Erinnerungen Gegenwart, wird aus vergangenen Drohungen das Fanal fiir eine Zukunft, die lange nicht so rosig aussehen wird, wie sie die Prophezeiungen der Aufklärung imaginiert haben. Aus der Zusammenschau von Fred Wanders Arbeiten entsteht ein Buch: Das Leben. Und für dieses eine Buch wird gelten, was Edmond Jab2s, der aus Ägypten vertriebene, in Frankreich arbeitende jüdische Schriftsteller, einmal notiert hat: „Wenn es dem Buch eines Tages gelingt ... aus einem anonymen, unbekannten Leser einen Freund zu machen, dann ist das für seinen Autor der tröstliche Beweis, daß das Buch, dem er soviel geopfert hat, nicht umsonst war. Der Großzügigkeit meiner Leser, von deren Existenz ich nunmehr weiß und deren Gesichter ich zu einem gewissen Teil kenne, überlasse ich diese Seiten; denn die Zeit eines gelebten Lebens ist nie etwas anderes als die Zeit einer Überlassung. Unerahnt bleibt das Ende. Ein anderes selbst begleitet mich, und es allein weiß, wo wir hingehen. Dieses Anderswo wird, einmal erreicht, ein und dasselbe tausendfach aufgeschlagene Buch hinter sich haben, und vor sich das zukünftige Buch, das im entscheidenden Moment zu schließen ihm zufällt. Jedes Schriftstellerschicksal schreibt sich dort, wo das Leben aufhört, sich zu schreiben. Es ist gar mehr nicht als die unglückliche Schrift seiner Vollendung.“ Stephan Steiner Ein Fest für Zwetkoff Es war ein unzeitgemäßes Fest. Keine Festrede. Keine politische Prominenz. Auch kein Buffet. Brenner-Forum, THEODOR KRAMER GESELLSCHAFT und der ORF Tirol feierten gemeinsam mit Peter Zwetkoff den 70. Geburtstag. Den Geburtstag eines Komponisten, der sich selbst immer gern im Hintergrund gehalten hat, in seinen Musikproduktionen für den Rundfunk, für Hörspiele und Fernsehspiele, auch für Theateraufführungen und Spielfilme, der sich nie sonderlich um den Kunstmarkt 8. diskutiert wurde. Oft standen sie um einen wild gestikulierenden Redner herum - ein Prophet, ein Weiser, ein Narr! Unter den Juden bilden sich rasch wieder die uralten Strukturen der Talmudisten heraus, Deuter und Kommentatoren von Weltereignissen, Fanatiker des Streitgesprächs. Und es gab auch die Einzelgänger, die nichts anderes machten als schauen! Und dann sah ich oben auf der Tribüne ein bekanntes Gesicht, meinen Cousin Kurt Goldenberg aus Wien glaubte ich zu sehen. Ich rannte hinauf — aber es war ein Fremder. Die Tribünen waren immer besetzt, von abwartenden, leidenden, grübelnden Zuschauern dieses bizarren Schauspiels. Und als ich mich eine Stunde später unten auf eine Bank setzte, saß jener Fremde neben mir. Zufall oder Bestimmung? Wir kamen ins Gespräch und wurden Freunde. Eine Freundschaft, die bis zu seinem Tod, mehr als vierzig Jahre später währte. Es war Ernst Rosenberger, von dem ich bereits erzählt habe. Wir richteten uns gemeinsam im Lagerleben ein, so gut wir konnten und teilten alles. Aber die erste Phase unserer Bekanntschaft endet im Mai 1940, als die Gefangenen gedrängt wurden, sich freiwillig in der Französischen Fremdenlegion zu engagieren. Rosenberger meldete sich als einer der ersten, nur ich sollte es nicht tun, wie er mir dringend riet. Junge Kerle wie mich, würden sie als Kanonenfutter verheizen! Rosenberger war neununddreißig Jahre alt - ich habe ihn schon skizziert, versuche es aber hier nocheinmal: Ein kleiner, schmaler, unauffälliger Mann mit einem markanten Kopf. Ein zurückhaltender Typ, der seine Sensibilität hinter Ironie und Sarkasmus versteckte. Er redete leise, aber eindringlich und erhob selbst im Zorn nie die Stimme. Und sein Zorn brannte lichterloh: Die französische und englische Regierung warfen sich Hitlerdeutschland an den Hals, richteten ihren ganzen Haß gegen die Linken im eigenen Land. Wollten sie die Faschisten beschwichtigen? Die deutschen Truppen möglichst an die russische Grenze lenken? Sie würden sich liebend gern Europa mit den Nazis teilen, meinte Rosenberger, eher als daß sie sich mit den Russen verbünden würden! Hitler war ihnen nicht sympathisch, aber er war als Verbündeter gegen die Sowjets akzeptabel. Eine Meinung, die man auch bei den Diskussionen im Lager hören konnte. Zwei Worte, die stereotyp genannt wurden: „La dröle de guerre“, der „komische Krieg“, und „Fünfte Kolonne“! Der Krieg war erklärt, aber es gab keinen Krieg. An der MaginotLinie spielten die französischen Soldaten Fußball. (Erst im Mai marschierten die Deutschen in Nordfrankreich ein!) Und daher die Bezeichnung - „Komischer Krieg“ ! Die „Fünfte Kolonne“ säße bereit in den Reihen der führenden Kreise Frankreichs und Englands, erzählten sich die Leute. (Bruno Frei, der nach dem Krieg einer meiner Lehrer wurde, schrieb 1950 in seinem Buch ‚‚Die Männer von Vernet“: „Die Fünfte Kolonne saß in der Regierung, im Generalstab, in den Wirtschaftsverbänden, in den Bankpalästen. Sie hatte die Macht im Staat. Sie entfachte gegen die selbstlosesten Verteidiger Frankreich eine ruchlose Verfolgung. Die Fünfte Kolonne ließ die Patrioten einsperren - als ‘Fünfte Kolonne’!“ Denn in den Gefängnissen saßen zu jener Zeit auch Tausende französische Kommunisten! Auf welcher Seite die Engländer und die Franzosen standen, nämlich auf Seiten der Faschisten, hatte man schon im Spanienkrieg gesehen! Sie verweigerten den Republikanern Waffen und sahen untätig zu, wie die Faschisten spanische Städte bombardierten. Und Rosenberger kam zu dem Schluß: Der Zweite Weltkrieg wäre zu verhindern gewesen, hätten England, Frankreich und Amerika den Erzfaschist Franco rechtzeitig in die Schranken gewiesen. Der Spanienkrieg war die Generalprobe: Hitler und Mussolini wußten nun, worauf sie sich verlassen konnten — auf die Schwäche der Alliierten! Alles an Rosenberger war Selbstbeherrschung und Bescheidenheit, was ihn zu einem angenehmen und zunehmend faszinierenden Gesprächspartner machte. Er besaß Charme und eine umfassende literarische Bildung. Es war völlig natürlich, wenn er stundenlang über Baudelaire und Rimbaud redete, über Stendhal und Proust, auch über Kafka, Musil und über Karl Kraus, der sein Idol und sein Meister war. Er redete über Hegel, Kant, über Marx und Freud, und ich mußte mir eingestehen, daß ich vieles, worüber er reflektierte, nicht gelesen hatte. Nach einigen Wochen im Stade de Colombes, wurden wir Internierten in Züge verladen und in die Bretagne gebracht. Der Orthieß Meslay du Maine, wo wir wiederum wie das Vieh auf eine große Weide getrieben wurden. Diesmal war es wirklich eine Kuhweide, hinter den Mauern eines riesigen Schloßparks. Es war Spätherbst, und wir mußten auf dem nackten Boden schlafen. In wenigen Tagen hatte sich die Erde unter den scharrenden Füßen der vielleicht zweitausend Häftlinge zu breiigem Schlamm verwandelt, der scharf nach Urin stank, ein penetranter Zoogeruch. (Die Gefangenen von Colombes wurden auf mehrere Lager verteilt!) Erst nach Wochen, es muß kurz vor