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lischsprachigen Literaturkritik wurde ihm seit dem Erscheinen von ‚Soul of Wood“, dem von Ralph Mannheim übersetzten Erzählband ‚‚Eine Seele aus Holz“ ein nicht abreißendes Interesse entgegengebracht. Der deutsche und österreichische Literaturbetrieb allerdings hat in den vergangenen drei Jahrzehnten das seinige getan, um einen der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller, der unsere Welt schonungslos und als endgültig zerstört beschreibt, aus den Augen der Leser verschwinden zu lassen. Ein kleiner Versuch, Jakov Lind für sein Werk und seine Bereitschaft, den Österreichern — nicht nur den Lesern — einer neuen Generation entgegenzukommen, zu danken, war ein literarischer. Ein ,,Textportrait*?, das in wochenlanger Vorarbeit von Peter Turrini und mir zusammengestellt und von Kirsten Dene und Peter Turrini in der Alten Schmiede gelesen und begeistert empfangen wurde. Mit dieser Collage aus fiktionalen, autobiographischen und essayistischen Texten, die in vier Abschnitte untergliedert war, wurde gezeigt, auf welche Art es Jakov Lind gelungen ist, seinen Lebenserfahrungen und dem historischen Geschehen beizukommen. Silke Hassler 1 9.1. 1995: Literaturhaus Salzburg. Hörspiel: Der Erfinder (1990). Lesung von Jakov Lind aus „Eine bessere Welt“ (1966) und ,, Nahaufnahme“ (1972). Mit einer Einleitung von Silke Hassler. Filmvorführung: Das Schweigen des Dichters (1986). 10.1. 1995: Germanistisches Institut der Universitat Wien. W. Schmidt-Dengler: Konversatorium zur deutschen Gegenwartsliteratur. Lesung von Jakov Lind aus ,, The Inventor“ (1987) und ,,Der Erfinder“ (1988). Diskussion. 11.1. 1995: Literarisches Quartier der Alten Schmiede. ,,Textportrait“ — Kirsten Dene und Peter Turrini lesen Texte von Jakov Lind. 12.1. 1995: Literarisches Quartier der Alten Schmiede. Wendelin Schmidt-Dengler spricht zum schriftstellerischen Werk Jakov Linds. Lesung des Autors aus „Reisen zu den Enu“ (1983) und ‚Eine bessere Welt“. Diskussionsrunde mit Jakov Lind, Wendelin Schmidt-Dengler, Josef Haslinger und Silke Hassler. 14.1. 1995: Literaturhaus Wien. Filmvorführung „Die Öse“ (Oberhausener Filmfestspiele 1964). 16.1.1995: Literatur in der ‚Alten Welt“ (Gasthaus), Linz. Exil und Exilerfahrungen: Jakov Lind liest aus seinem „Selbstporträt“ (1970) mit einer Einleitung von Stephan Steiner. 2 Im vorliegenden Text ist dieses ‚‚Textportrait’ gekürzt wiedergegeben und mit Zwischentexten versehen, um den biographischen Hintergrund der Auswahl zu zeigen. 12. Augen aufmacht, sind die ‚‚Drei Pfeile“ der Sozialisten verschwunden und überall an Häusermauern und auf den Straßen war nur noch ein Krukenkreuz zu sehen, daß ,,uns Sozialisten und Juden vier Jahre lang bedrohte, bis eines Tages ein Hakenkreuz draus wurde.“ * Freitag morgens (Freitag, der dreizehnte”) marschierten die Deutschen in Österreich ein. Die ‘Heimkehr der Ostmark ins Reich’ hat mich auf die Straße getrieben. Auf der Suche nach einer neuen Freundin. In der Stadt gab es außer SA-Männern noch viel mehr zu sehen. Im Prater zum Beispiel gab es die dicksten Damen der Welt (Mitzi und Erna, jede wog 350 Kilo), die Liliputstadt, die Kalifate des Ringelspiels, die Geisterbahn, die Lachbuden, die Groschenautomaten. Am darauffolgenden Tag, am Samstag, war ganz Wien ein riesiges Hakenkreuz und Gott hatte auf immer bei mir verspielt. Falls Gott das gewollt hatte, und angeblich geschah ja alles nach seinem Willen, mußte er ein schändliches Ungeheuer sein, halb Krampus, halb feuerspeiender Drache. Und doch tat dieser gleiche Gott hier und dort etwas Gutes. Mir verschaffte er den lange herbeigewünschten Vorwand, nicht mehr regelmäßig die Schule besuchen zu müssen. Hausaufgaben waren, Gott sei Dank, reine Zeitverschwendung geworden. Die Stadt hatte jetzt an Phrasen mehr zu bieten als hypothetische Dreiecke und lateinische Sätze. Im Sprechchor gebrüllte Naziparolen und marschierende SS- und SA-Formationen waren ein schöner und aufregender Unterricht in Philosophie, Politik und Soziologie. Ein Tscheche names Navratil war plötzlich Deutscher, ein Pole mit unaussprechlichem Namen war ebenfalls Deutscher, Italiener, Ungarn, Rumänen, allesamt Deutsche. Nicht aber ein Jude mit dem guten deutschen Namen Landwirth. Mein Vater sah nicht Jüdisch aus, meine Mutter sah nicht jüdisch aus, wir hatten keine Judennasen, dafür aber einen guten deutschen Namen - nein, ein Jude konnte nicht Deutscher sein. Ein Jude war eine Hyäne, ein Schwein, ein Schweinehund, ein Hund, ein Untermensch, ein Verbrecher, Lügner, Ungeheuer. Die Emigration, dem Kind noch abenteuerliche und verlockende Perspektive, — „Mit neun Jahren machte ich mit drei Wurstbroten und einem Spazierstock den ersten Emigrationsversuch. Bei Einbruch der Dunkelheit bekam ich’s aber mit der Angst zu tun.“ Eine durch die zionistische Einstellung der Eltern angeregte Handlung. Bald wird sie zum einzigen und lebensrettenden Ausweg. Ein kalter Westbahnhof, spärlich beleuchtet im Dezember 1938, und weinende Eltern, die am Perron standen. Ein langer Zug mit einer Fracht von Kindern, jeden Alters, jeder Herkunft. Kinder mit kleinem und großem Gepäck, mit Taschen und Thermosflaschen und Paketen mit hartgekochten Eiern und Stangen Dauerwurst. Kinder, die auf ewige Ferien fuhren. Für viele von uns die erste Reise ins Ausland. In wenigen Stunden würde der Zug die deutsche Grenze erreichen. Ein Zug jüdischer Kinder fährt durch ein Reich der schwarzen Spinnen. Wie konnte das gut enden? Wer würde am Ziel der Reise auf uns warten? Wer und was? Für den Ausflug war keine Rückfahrkarte gelöst. Jakov Lind kommt in das Kinderflüchtlingslager Ockenburgh, später zu einer Gastfamilie. Er arbeitet als Chaluz (“ Pionier“) in einer Gartenbauschule in Gouda, geht nach Hilversum und Amsterdam. Bis 1940 war es noch ziemlich erträglich; im Mai aber kamen die deutschen Truppen. Nach den Truppen kamen die Maßnahmen.Die Schwierigkeiten. Keine Schule besuchen zu dürfen, ging noch dahin, aber auch aus Straßenbahnen und Geschäften verbannt zu werden, war eine Zumutung. Verordnungen, Verlautbarungen, Maßnahmen, Befehle. Man kam zu nichts mehr. Jeden Tag neue Verordnungen. Judenstern. Deportation. Auf der Flucht erschossen. Das ganze Land ein Käfig. Seine jüdischen Einwohner verschreckt und kopflos wie vergiftete Mäuse. Die Razzia am 20. Juni 1943 war meine letzte. Ich ging unter Wasser. Tauchte unter, verschwand für immer aus dieser Welt. Wurde Jan Gerrit Overbeek, geboren am 17. Januar 1926 in Aalten, Gelderland, Beruf: Transportarbeiter.® Mit diesen gefälschten Papieren geht Jakov Lind nach Deutschland - „Im Rachen des Ungeheuers würde ich weder seine Zähne noch seine Klauen fürchten müssen“ ’ — und arbeitet als Schiffsjunge auf mehreren Rheinschleppern. Die Verstellung gelingt, so gut, daß er die letzten Kriegsmonate im Reichsluftfahrtministerium in Dillenburg angestellt wird. Die Welt, in der ich lebte, die Naziwelt, war eine ganz gemeine. Und gemein wie sie mußte ich wirken, wollte ich sie überleben. Das habe ich geübt vor dem Spiegel. Stundenlang. Ich lernte das Gesicht der ‘anderen’. Ich lernte, den Leuten mit einem kühlen, unbeschwerten Blick zu begegnen. Nazis schaute ich so hart an, daß sie Angst