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gleichen Familie z.B. der Vater mit einem Sohn noch vor diesem Datum eingereist war, während es der Mutter mit der Tochter erst nachher gelang, die Schweizer Grenze zu überschreiten. Die letzteren hätten also zurückgestellt werden müssen. In solchen Fällen gab der Polizeihauptmann der Israelitischen Flüchtlingshilfe, die eine Registratur führte, den Rat, die später Angekommenen auf die Aufnahmebogen der vor diesem Datum Eingereisten zu setzen. Unter anderem wurde dies meinem Vater zum Verhängnis, weil der Leiter der Flüchtlingshilfe bei der Einvernahme aussagte, daß er auf Weisung Grüningers gehandelt habe. Eines Morgens, im Frühjahr 1939, durfte mein Vater sein Büro nicht mehr betreten. Einige Zeit später wurde er auf Verlangen seines politischen Vorgesetzten, des Herrn Regierungsrates Valentin Keel, dem Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Wil vorgeführt. Wenn dieser sich nicht geweigert hätte, Hauptmann Grüninger zu internieren, da er ihn als völlig normal taxierte, wäre mein Vater mit Bestimmtheit in der Irrenanstalt gelandet. Das Auto zur Überführung und zwei Beamte mit einer Zwangsjacke für den Notfall standen vor dem Polizeigebäude zur Abfahrt bereit. Mein Vater wurde sodann vom Dienst suspendiert und kurz darauf fristlos entlassen. Von einem Tag auf den andern wurde kein Lohn mehr ausbezahlt, und jeglicher Anspruch auf eine Pension wurde gestrichen. Bei meiner Mutter, die alles miterlebt und stets treu zu meinem Vater gehalten hat, wurde die Polizeiuniform abgeholt. Dies schmerzte sie sehr. Aus der Dienstwohnung mußten wir selbstverständlich sofort ausziehen. Es folgte eine schwere Zeit zwischen Hoffen und Bangen. Der Prozeß wurde in die Länge gezogen. Paul Grüninger wurde auf Schritt und Tritt beschattet. Nach zwei Jahren wurde er wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von Franken 300,und zur Bezahlung der Gerichtskosten in der Höhe von Franken 1013,05 verurteilt. Inzwischen war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Für meinen Vater war es unmöglich, eine Arbeit zu finden. Da war auch noch meine jüngere Schwester, geboren 1933, die meine Eltern als Pflegekind aufgenommen hatten. Oft wußten wir von einem Tag auf den anderen nicht, wovon wir leben sollten. Damit wenigstens jemand in der Familie etwas verdiente, brach ich mein Studium an der Handelsschule in Lausanne ab und trat eine kaufmännische Stelle an. Mein Monatsgehalt betrug Franken 120,-, die Wohnung kostete Franken 100,-. Später zogen meine Eltern ins Haus meiner Großmutter im Rheintal. Als Versicherungsagent, Vertreter, Fahrlehrer, Futterhändler, Teppichund Regenmantelverkäufer usw. betätigte sich Paul Grüninger in den folgenden Jahren. Erst als nach dem Krieg ein großer Lehrermangel herrschte, konnte er von Zeit zu Zeit Aushilfestellen in seinem angestammten Beruf als Primarschullehrer übernehmen, was ihn doch einigermaßen befriedigte. 1968, als die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei in die Schweiz kamen, fand es Herr Ständerat Dr. Rohner aus Altstätten an der Zeit, bei der St. Galler Regierung einen Vorstoß für eine Rehabilitierung zu unternehmen. Der Versuch scheiterte jedoch. Mein Vater erhielt 1970 ein Schreiben vom Regierungsrat, worin festgehalten wurde, daß man sein menschliches Verhalten wohl anerkenne, daß jedoch nicht weiter auf die Angelegenheit eingegangen werden könne. Dies geschah noch zu seinen Lebzeiten, und er freute sich darüber. Aus dem Ausland ist er dann mehrmals geehrt worden. Der jüdische General Klein aus Washington gab in St. Gallen einen Empfang zu seinen Ehren. Vom deutschen Bundespräsidenten Heinemann erhielten meine Eltern einen Fernsehapparat als Geschenk, und der Höhepunkt war dann die Verleihung der Medaille der Gerechten durch den Staat Israel. In den letzten Jahren sind verschiedene weitere Vorstöße unternommen worden. Eine „politische“ Rehabilitation ist am 30. November 1993 durch die St. Galler Regierung ausgesprochen worden, und im Juni 1994 ist dies auch durch den Schweizer Bundesrat nachgeholt worden. Eine vollständige, rechtliche Rehabilitierung fehlt aber immer noch. Der Historiker Stefan Keller hat im Auftrag des ‚Vereins Gerechtigkeit für Paul Grüninger“ ein Buch geschrieben. Zu „‚Delit d’humanite“ , der französischen Übersetzung von „Grüningers Fall“ , hat Frau Bundesrätin Ruth Dreifuss das Vorwort geschrieben. Am 22. Februar 1972 ist mein Vater im Alter von 81 Jahren gestorben. Nach all dem Schweren und den vielen Enttäuschungen, die er erleben mußte, sagte er am Schluß seines Lebens: Ich würde trotz allem in der gleichen Situation wieder genau gleich handeln. Ich bin stolz auf meinen Vater. Neues zu ,,Griiningers Fall“ Bei einer Vorstandssitzung des Vereins „Gerechtigkeit für Paul Grüninger“ am 24. Jänner 1994 in Zürich konnte Barbara Gross (ÖVP-Bezirksrätin in Floridsdorf) über die Initiative zur Benennung eines Schulzentrums in Wien-Floridsdorf nach Paul Grüninger berichten. Die vom Architekten Gustav Peichl geplante Schule Ecke Hasswellgasse/Jedlersdorferstraße wird voraussichtlich im Herbst 1996 eröffnet. Man wird sich überlegen müssen, wie man Schüler-, Lehrer- und Nachbarschaft am besten über den Grund der Benennung informiert. — Sophie Haber, die selbst 1938 von Griininger gerettet wurde und sich nun in Wien fiir eine angemessene Ehrung Grüningers einsetzt, wurde einstimmig in den Vorstand des Vereins gewählt. Der Basler Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Mark Pieth erstellte ein Rechtsgutachten, aufgrund dessen am 30. März 1995 beim Bezirksgericht St. Gallen ein Wiederaufnahmegesuch eingereicht wurde. Es geht nun, nach der moralischen und politischen Rahabilitierung, um die rechtliche Rehabiltierung Paul Grüningers. Das bedeutet, daß auch ein Entschädigungsanspruch für Grüninger und seine Nachkommen anerkannt werden muß. Wird dieser Anspruch durchgesetzt, soll die Entschädigung in eine Stiftung zur Unterstützung von Flüchtlingen und von Studien, die der Aufklärung über das Schicksal von Flüchtlingen dienen, eingehen. Wiens Bürgermeister Dr. Michael Häupl lud Ruth Roduner-Grüninger für Anfang Mai 1995 zu einem Besuch nach Wien. Leider konnte er sich nicht zu einem Akt der öffentlichen Anerkennung Paul Grüningers durchringen. Immerhin wurde durch das Wirken Grüningers vor allem Wienern, die als Juden verfolgt wurden, die Flucht ermöglicht und damit das Leben gerettet. Die ,,griine“ Gemeinderatin Friedrun Huemer und Konstantin Kaiser luden daher namens des ,,Griinen Klubs“ und der Theodor Kramer Gesellschaft zu einem öffentlichen Gepräch mit Roduner-Grüninger ein, an dem sich auch Sophie Haber und Erich Hackl beteiligten. Zu dem Gespräch am 11. Mai kamen über hundert Interessierte. In einer lebhaften Diskussion wurden eine Reihe von Vorschlägen gemacht. (Protokoll wird auf Anfrage von der Redaktion MdZ zugesandt.) Anwesend war auch der geschäftsführende Präsident des Wiener Stadtschulrates, Dr. Kurt Scholz, der seine Unterstützung erklärte. Der ORF, ‚Der Standard“, ‚Profil‘, „Die Presse‘ berichteten. 17