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Elisabeth Neumann, Kabarett Berlin 20er Jahre Exil-Theater, New York, 40er Jahre. Foto: Trude Fleischmann 18. Edith Kramer Verzauberung - Entzauberung Am 12. März 1995 fand eine Gedenkveranstaltung für die am 24. Dezember 1994 verstorbene Elisabeth Viertel-Neumann in der Kleinen Bühne Wieden statt. Die Malerin und Psychotherapeutin Edith Kramer, Nichte und Adoptivtochter Liesl Neumanns, sprach einleitende Worte. Wenn ich in dieser Feier den Anfang mache, dann wohl weil ich meine Tante Lies] — Jüngere Schwester meiner Mutter — länger gekannt habe als andere in dieser Versammlung: Ich kenne den Ursprung ihrer Liebe zum Theater. Denn Liesl hatte zwei große Lieben - den großen Theatermann und Dichter Berthold Viertel und das Theater. Viertel hat sie erst in der Emigration, 1940, kennengelernt — mit dem Theater hat es angefangen, sobald sie sprechen konnte. In der Kindheit waren es Phantasiespiele, von der älteren Schwester erfunden und dirigiert — von der Jüngeren ausagiert. Damals schon spielte sie groteske, typisch komische Figuren — grandiose Phantasien, Selbstironie, Entzauberung, Realität von Anfang an. Es gab zwei große Sagen, die sich von der Kindheit ins erwachsene Leben erhalten haben und die daher auch mir bekannt sind. Da war der Affe Joko, der sich einbildete, ein Ritter zu sein: „Joachim von Dämpfhof auf Dämpfhofstein“, versehen mit dem unbesiegbaren Schwert Signeralda, einer Herzensdame und dem feindlichen Geschlecht der Ramsampuln-Teufel, die der Ritter bekämpfen mußte. Das war der Grundriß. Aber dann die Entzauberung — ,,Du bist ja gar kein Ritter, nicht einmal ein Mensch! Du bist janur ein Affe - sogar eine Äffin!“ Dann war es aus, aber es fing auch wieder an. So ging es weiter: Parodien wurden eingebaut, z.B. der Monolog der Jungfrau von Orl&ans auf Joachimisch, vaterländische Gedichte u.a. Das zweite große Spiel handelte von Murrendindanda, Kaiser von Knurrland, mit eigener Sprache: ,,Knurrisch*, und einem Zauberwort gegen Unfälle: „Bisdinju“. (Noch zuletzt, wenn sie wieder einmal gefallen war, hat Liesl gesagt: ,,Ich hab halt vergessen, Bisdinju zu sagen.) Aber auch das war erlogen — Florian da Erlogene, meine Mutter hat ihn gespielt, die alles erfunden, erlogen hat. Aber gerade darum, weil alles erlogen war, wurde weitergespielt, und später wurden die Männer in das Spiel einbezogen. So wurde Siegfried Bernfeld zum ,,Brassilla‘ (kurz Brassi), dem zu groß geratenen Zwerg, der an ,, Vergescheiterung“ litt. Auch Berthold Viertel profitierte von Knurrland, denn wenn er einen seiner Wutanfälle hatte, er nicht ansprechbar war, jede Vernunft machtlos, dann hat Liesl auf Knurrisch zu ihm gesprochen: sinnlose Worte, aber doch Worte, in beruhigendem Ton. Das hat oft, nicht immer, geholfen. Psychologisch gesehen geht die Wirkung wohl auf das erste Lebensjahr zurück, in dem das Kind noch keine Worte, aber sehr den Tonfall der Sprache, die es erlernen wird, kennt und darauf anspricht. Verzauberung — Entzauberung, Phantasie und Realität, einander ergänzend: Darin wurzelte Liesls Lebenskunst, ihre innere Stärke, ihre Energie, von Lebensfreude und Optimismus getragen — mit der hat sie Vater, Mutter, Bruder und Schwester und vielen anderen das Leben gerettet. Der Anstand im Leben und in der Kunst war unbedingt. Darin war sie Berthold, der am Leben gelitten hat, verwandt. Am Kern ihres Lebens, am Theater, habe ich sehr früh teilgehabt, denn sobald ich lesen konnte, mußte ich auch Rollen abhören — Stichworte mußten richtig gebracht werden; wenn ich ein Wort falsch ausgesprochen habe, war sie sehr böse. Ich erinnere mich noch, wie ich mit ihr den Christopherl gelernt habe und, achtjährig, das Wort Fiaker nicht kannte. Also das war schlimm! Aber man konnte es verzeihen. Die unverzeihliche Sünde war der Schwindel, Unbegabung, die sich aufspielt. Liebe, selbst zum nächsten Menschen, war niemals bedingungslos. Ich erinnere mich noch, wie wir einmal in einer Ausstellung moderner Kunst waren, voll von präpotenten, sinnlos aufgebauschten grandiosen Machwerken. Da sagte sie: „Was wäre, wenn du so eine Malerin geworden wärst?“ Ja vielleicht, wenn man jemanden sehr gern hat, überwindet man das irgendwie, dann aber: ‚‚So etwas wäre ja gar nicht möglich — du bist doch mein Kind — so etwas hättest du nie gemacht.“ Ich war nicht ihr Kind, aber darin waren die beiden Schwestern, meine Mutter und Liesl, einander gleich: Man muß nicht Künstler werden, doch wenn man es unternimmt, einen schöpferischen Beruf zu ergreifen, dann muß man etwas können. Dann ist die Todsünde die Lüge.