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Einmal nach dem Frühstück sagte er, ich solle mit ihm kommen, er wolle mir etwas zeigen. Wir gingen zu einem Haus in der Nähe. Er blieb stehen und zeigte auf ein Fenster im dritten Stock. ‚Dort ist unser Freund“, ich habe den Namen vergessen, ,,der auch Gedichte schrieb, aus dem Fenster gesprungen. Hier ist er aufgeschlagen und war gleich tot.“ Sagte Erich und sah mich mit großen, etwas herausfordernden Augen an. Lina Loos Allererste Kindheitserlebnisse Es sind dies: ein blindes Pferd, eine Brennesselstaude und die erste Lüge, die ich zu begreifen suchte. Meine Eltern hatten für ihr Geschäft ein blindes Pferd gekauft, weil es billig war. Dieses Pferd liebte ich sehr, denn es erweckte die erste Empfindung in mir, über die kindliche, egoistische „Ich-liebe“ hinaus. Das Tier war so fromm und gut, und es erkannte mich schon von weitem an der Stimme. Ich versuchte, an seinen Beinen hinaufzuklettern, um es streicheln zu können, da spitzte es die Ohren und rührte sich nicht, um mir nicht wehzutun. Jeden Abend wartete ich, bis es müde und erschöpft nach Hause kam, um ihm „Gute Nacht“ zu sagen. Ich wollte, ich hätte mein ganzes Leben so ergeben, treu und pflichterfüllt gelebt wie dieses Pferd. Ein so schönes Beispiel hatte mir da das Leben unvergeßlich in das Herz geprägt. Das Leben tut wirklich alles, um sich verständlich zu machen; es gibt Beispiel um Beispiel, aber wir verstehen es nicht oder verstehen es zu spät. Dieses liebe, arme Pferd, so gütig wie eine Kreatur nur sein konnte, es liebte mich sicher auch, liebte mich so tief wie eine Kreatur eben lieben kann. Eines Abends wartete ich vergeblich. Es kam nicht. Es kam nie mehr, es war gestolpert und hatte sich ein Bein gebrochen — wurde vom Roßfleischhändler gekauft und wiederverkauft. Dies war der erste wilde Schmerz meines kleinen Kinderherzens. Und es war so schwer zu verstehen. Warum kam kein Doktor? Warum lag es nicht im Bett, bekam es keine Umschläge, nicht süße Chaudeau? Warum sagen die Großen, man mußte es erschießen; ich hätte es schon gesund gepflegt — wie schwer war dies alles zu verstehen?! Die zweite unvergessene Erfahrung war körperlicher Art. Nur mit einem kurzen Kinderhemd bekleidet, fiel ich von einer Gartenbank in hohes Brennesselgestrüpp; vergeblich suchte ich mich zu befreien. Es war der erste wilde Körperschmerz. Damals mußte ich annehmen, daß Tiere gut, Blumen oder Pflanzen aber böse sind und kleine Kinder nicht lieben — und fiir ein Kind ist doch alles so schwer zu verstehen. Warum nur für ein Kind? Ich verstehe es heute noch nicht, warum sich die Brennesseln so wehren; wer tut ihnen etwas? Das gute, brave Pferd liebte, wurde geliebt und wurde erschossen. Die bösen Brennesseln lieben niemanden, werden von niemandem geliebt und von allen in Ruhe gelassen! Erstdruck von ,,Allererste Kindheitserlebnisse“ in: Die Weltpresse, Wien, I. November 1951. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Neuerscheinungen zu Lina Loos: Lisa Fischer: Lina Loos oder Wenn die Muse sich selbst küßt. Wien: Böhlau 1994. 290 S., öS 298, -. Lina Loos: Wie man wird, was man ist. Hg. von Adolf Opel. Wien: Deuticke 1994. 301 S., öS 298,-. Lina Loos: Von der unerfüllten Sehnsucht des Lebens. .... Jede Zeit ist voll Sehnsucht nach anderen Zeiten. Menschen mordende Zeiten werden wie vernarbte Wunden vergessen — oder Menschen mordende Zeiten werden verherrlicht, dann bleiben sie eiternde Wunden. In das Gefängnis der Zeit war das literarischen Werk von Lina Loos gesperrt und wurde jetzt, 45 Jahre nach ihrem Tod, von Adolf Opel in einer ausgezeichneten Edition zugänglich gemacht, die durch eine engagierte Lina Loos-Biographie von Lisa Fischer ergänzt und bereichert wird. Wie beharrlich der „Zeitgeist“ und wie gering der „Fortschritt“ in diesem, unserem Jahrhundert gewesen ist, wenn darunter die elementaren Fragen des Lebens wie die Geschlechterfrage, ja überhaupt die Fähigkeit, zu lieben und in Frieden Unrecht zu bekämpfen, verstanden werden, kann in dem blitzenden Scheinwerferlicht, das die Gedichte, Aphorismen, Kurzgeschichten und Theaterstücke Lina Loos’ auf die Epoche werfen, nachgelesen werden. Das ‚‚Mädili“ , so die grausame Bezeichnung ihres Ehemanns Adolf, wird durch die Etikette ‚‚kindweibische Emanze“ (in einer „Kritik“ im „morgen“, 1995) noch übertrumpft. Wer immer sich mit der Grammatik des Lebens von Lina Loos und ihren Reflexionen auseinandersetzt, muß bereit sein, den Schleier eines verführerischen und monströsen Frauenbildes zu zerreißen. Denn Lina Loos, die Freundin bekannter Männer wie Peter Altenberg, Egon Friedell, Franz Theodor Csokor, begehrte Schönheit der Stadt, Brillant und doch Natur, Muse und Inspiratorin, interpretiert und gestaltet diese äußeren Schalen von innen heraus. Umgeben vom Interieur eines Salons läßt sie keinen Zweifel, daß sie ihr eigenes Dienstmädchen ist. Ob Dame oder arbeitende Frau, beide kennen die Quelle des weiblichen Spiels im Geschlechterkampf, führen Klage über „die Unfähigkeit des Mannes etwas außerhalb von sich selbst zu lieben“ und beharren auf dem Menschenrecht der Sexualität und Intellektualität von Frauen. In einer kleinen Geschichte wird der Männergesellschaft das „Tier“ gegeben in der Gestalt eines „Eichhörnchens“, und dieses konterkarikiert ohne Erbarmen und Kitsch den zur Technokratie verkommenen Fortschritt als die Brutalität des Mannes, der seine größten Mängel für seine Stärke hält: die Liebesfähigkeit und Verbindlichkeit. In den 20er und 30er Jahren war Lina Loos Schauspielerin in Wien und schrieb für das Feuilleton von Tageszeitungen und Zeitschriften. Sich als Theaterautorin zu etablieren, blieb ihr verwehrt. Lina Loos hat in ihren späten Jahren, die sie in Armut, zurückgezogen und krank in Wien verbrachte und der kurzen Lebenszeit nach dem Faschismus einen Maßstab gesetzt, was unter ‚‚Innerer Emigration“ und Faschismuskritik zu fassen wäre. Siglinde Bolbecher 21