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sie auch stattfindet; gerade die Gleichgültigkeit diesen Bedingungen gegenüber erforderte die Ästhetisierung. Im genauen Gegensatz zur präfaschistischen Heimatliteratur mit ihren romantisch-konservativen, der Industrialisierung feindlich gesinnten Zügen feierte man damit die Durchsetzung der technischen Modernisierung, die Zuspitzung der Krise, die Zerstörung vormoderner Lebensweisen — das Einverständnis wurde als Pose kultiviert. „Was fällt, das soll man auch noch stoßen“ — so lautete die Devise. Das Bürgertum wie die Arbeiter, die Technik wie der Krieg oder die Revolution wurden dabei als ästhetische Kategorien fetischisiert: „Bürgertum“ bezeichnete viel eher einen bestimmten Geschmack und ein Gefühl der Sekurität als die Eigentümer von Produktionsmitteln oder die Aneigner des Mehrwerts; „‚Arbeiter‘‘ und „Soldat“ konnten nur darum ineinander aufgehen, weil beide als Gegenteil eines solchermaßen verstandenen Bürgertums gefaßt wurden: nicht die Lohnarbeit und nicht die Produktion von Gebrauchswerten galt als Bestimmung, sondern ein abstraktes, mehr gefühltes als gedachtes Telos der Kollektivität. Fanden gesellschaftliche oder ökonomische Begriffe dennoch Beachtung, so nur an untergeordneter Stelle: ,,Denn ich sehe mit andern Augen als Marx, der in allem ein Spiel ökonomischer Kräfte erblickt, während ich glaube, daß schon etwas mehr als Ökonomie dahinter steht“. Dieses mythische Surplus, das Jünger 1930 produzierte, verband die linken Leute von Rechts mit den Ästheten von Links. Ungefähr in der Mitte dieser außerparlamentarischen Sitzordnung befand sich Ernst Niekisch, der Jüngers ‚‚Arbeiter“ als bedeutendste Erscheinung des Jahres 1932 pries, da sie „eine von allem Marxismus freie Philosophie einer Art von deutschem Bolschewismus“ vertrete — zur gleichen Zeit veröffentlichte er sein Buch ‚Adolf Hitler. Ein deutsches Verhängnis“. Im Unterschied zu Jünger suchte er die offene Konfrontation mit den Nazis; und angeblich half ihm Jünger dabei, den Verfolgern zu entkommen. Später wurde Niekisch Mitglied des Zentralkomitees der SED, wobei er weiterhin Ernst Jünger als geschworenen Feind des Bürgertums schätzte, und seinen Genossen klarzumachen versuchte, wie nahe sie ihm doch stünden, ohne es zu wissen. Arnolt Bronnen exhibiert mit besonderer Leidenschaft den sexuellen Kern dieses mythischen Surplus: sein linker Nationalismus tobte sich noch mehr als der Jüngers in Männerphantasien aus. In den ‚‚Rheini28. schen Rebellen‘ — auf Frank Castorfs Berliner Volksbiihne vor einigen Jahren wiederaufgenommen, dort wo auch Kresniks Tanztheater-Stück über Ernst Jünger gespielt wird — erlebt die weibliche Hauptfigur buchstäblich einen nationalen Orgasmus: „Sehnsucht hat mich besessen gemacht, Sehnsucht nach Deutschland, ich fuhr durch Deutschland, habe Deutschland gesehen, ich trank das Land, Dörfer betäubten mich, Städte kamen über mich wie rote Stiere, Berge drängten in meinen Leib [...] alles war eins, alles war Deutschland, Sehnsucht, Größe und Süßigkeit [...] Ich verstehe nichts von Politik [...] aber als ich hörte, daß Deutschland untergehen soll, als ich von Verrat hörte, von Abfall, von Verhöhnung und Tritten, da wurde ich rasend [...] man soll uns nicht zerreißen. Wir lieben uns doch. Man soll uns nicht trennen [...] ich möchte siegen. Es drängt mich vorwärts, es schlägt in mir unaufhörlich Musik. Schon höre ich den Tritt der deutschen Regimenter heran. Schon höre ich die Signale des deutschen Sturms. Ich sehe weithin das Reich von Kolonnen voll Rauch voll Erhebung.“ Arnolt Bronnen schloß sich nach 1945 — wie Niekisch — der kommunistischen Bewegung an. Auch seine Einschätzung der frühen ‚‚nationalrevolutionären“ Bestrebungen bleibt schillernd: ,,Ich war Faschist, mehr noch war ich Anarchist.“ Bertolt Brecht hat mit Arnolt Bronnen, der sein früher Weggefährte und enger Freund gewesen war, öffentlich nicht gebrochen — auch nicht, als dieser Goebbels näher stand als ihm. Auch ist Brechts eigene Darstellung des Krieges und des Kampfes in manchen seiner Stücke aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren von Jüngers „Arbeiter“ nicht so weit entfernt, wie man meinen möchte. Die Zerstörung des bürgerlichen Individuums als ästhetische Demonstration scheint ihm noch in den Lehrstücken wichtiger zu sein als die Politik selbst. Doch war Brecht immer unempfänglich für den Nationalismus — und angesichts des etablierten nationalsozialistischen Systems hat er begonnen, sein episches Theater zur Entästhetisierung der Politik zu nutzen. Man vergleiche nur die Perspektive des Krieges in „Mann ist Mann“ mit jener in der ,, Mutter Courage“. So ist Brecht auch hier eine Ausnahme, Benjamin nannte ihn den ,,Spezialisten des Von-vorn-Anfangens“. Seine Bedeutung liegt nicht zuletzt darin, daß er sich beim Von-vorne Anfangen — wenn auch stillschweigend — von den linken Leuten von Rechts entfernt hat. Jenes Bürgertum, gegen das Ernst Jünger und Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Arnolt Bronnen, Walter Benjamin und Carl Schmitt einstmals gemeinsam antraten, und dessen ausgeprägteste Gestalt sie in Thomas Mann zu erkennen glaubten, ist längst verschwunden. So wäre denn die alte wie die eben erschienene Literatur von Ernst Jünger, des Spezialisten des Nicht-mehr-Aufhörens, ein Leitfossil der zwanziger Jahre. In der Geschichte der Ideologien aber lassen sich Fossile zum Leben erwecken, wenn sie dringend gebraucht werden. Und die Nachfolgestaaten des „Dritten Reichs“ haben Jünger offenbar nötiger denn je. Seine Literatur entsorgt ihre Geschichte auf andere, womöglich sogar wirkungsvollere Weise als die Historikerdebatte: sie macht sie genießbar. Zitierte Literatur Ernst Jünger: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Stuttgart 1978-1983. Ders.: Über Nationalismus und Judenfrage. In: Süddeutsche Monatshefte. 27. Jg. Oktober 1929 bis September 1930. Ders.: „Ein Bruderschaftstrinken mit dem Tod“. SPIEGEL-Gespräch. In: DER SPIEGEL (1982) Nr.33. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Gesammelte Schriften. Bd.I/2. Frankfurt am Main 1980. Ders.: Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. Zur Urauffiihrung von acht Einaktern Brechts. In: Gesammelte Schriften Bd. 1/2 Arnolt Bronnen: Rheinische Rebellen. Schauspiel. Berlin 1925. Ders.: Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll. Beiträge zur Geschichte des modernen Schriftstellers. Berlin, Weimar 1985. Ernst Niekisch — In: Widerstand (1932) Heft 8. Helmut Heißenbüttel: Selbstkritik in Sachen Jünger. In: Streit-Zeit-Schrift. Heft VI (1968). Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Werke. Hg.v. Karl Schlechta. 6.Aufl. München 1969. Bd.I. Ders.: Zur Genealogie der Moral. In: Werke Bd. I. Heiner Miiller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln 1992 Von Gerhard Scheit ist zuletzt erschienen: Dramaturgie der Geschlechter. Über die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1995. 400 S.