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Michaela Hasenauer Einführung zu einer Lesung von Vladimir Vertlib in der Stadtbücherei Hallein, 21. April 1995 In Vertlibs Buch mit dem Titel ,,Abschiebung“ geht es um eine prägende Erfahrung des 20. Jahrhunderts, nämlich um Emigration, und damit verbunden um den Verlust der Heimat — was immer das auch sein mag -, um die existentielle Erfahrung von Fremdheit und Exil; und in der Folge natürlich auch um die mit vielen Mühen verbundene Suche nach einem Ort, der vielleicht eine ‚‚neue Heimat“ werden könnte. Die existentielle Erfahrung von Zurückweisung, auf der einen Seite - und Menschen werden ja durch unlebbare Zustände in ihrem Geburtsland zur Emigration gezwungen — , und des Unerreichbaren, auf der anderen Seite: Ist man stark genug, daran nicht zu zerbrechen, bleibt nur die Suche nach dem Weg. (Vgl. Julia Kristevas „Fremde sind wir uns selbst“). Vladimir Vertlib wurde 1966 in Leningrad, im heutigen St. Petersburg, geboren, und die Erfahrungen von Emigration haben sein Leben von früher Kindheit an geprägt. 1971 — damals war er erst vier Jahre alt — mußte die Familie nach Isreal emigrieren. Die Familie Vertlib blieb allerdings nicht in Israel; es folgte eine mehr als zehn Jahre dauernde Odyssee durch alle möglichen Länder: Stationen waren u.a. Österreich, Italien, Holland, die USA, und 1981 schließlich Wien. Vladimir Vertlib hat dort Schule und Studium absolviert; derzeit lebt er in Salzburg. Vladimir Vertlib knüpft also durchaus an autobiographische Erfahrungen an, wenn er in seinem Buch die — vergeblichen — Bemühungen einer russisch-jüdischen Familie schildert, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Er erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines 14jährigen Ich-Erzählers heraus. Diese Erzählposition stellt eine große Nähe zum Geschehen her: genaue Personenzeichnungen und scharfe Beobachtungen umreißen die spezifische Situation einer Familie im Exil, wo die einzelnen Familienmitglieder einander oft die einzigen Bezugspersonen sind und daher extrem aufeinander angewiesen sind. Doch läßt die Erzählhaltung immer noch genug Raum für Reflexion und Analyse 34. der Situation, mag sie emotional auch noch so intensiv erlebt und geschildert werden. Hier kommt etwas zum Tragen, das das Buch für mich so auszeichnet, nämlich die Ironie. Die Geschichte vom vergeblichen Versuch, in die USA einzuwandern, insbesondere die letzten Wochen vor der Abschiebung, bildet den Rahmen des Buches. Aus der Sicht des jugendlichen Erzählers bekommen wir einen Eindruck vom Umgang der amerikanischen Behörden mit den Immigrationswilligen. Eingeschoben in diese Rahmenhandlung sind Reflexionen, Tagebuchaufzeichnungen und — ein weiterer ganz wichtiger „Bestandteil“ dieses Buches: Erinnerungen. „Erinnerung“ und „Zeit“ sind Begriffe, die gerade für die Romanliteratur des 20. Jahrhunderts eine konstitutive Bedeutung gewinnen. Reflexionen über Zeit, über verlorene Zeit, über die durch Erinnerung wiederauffindbare Zeit — das alles sind bevorzugte Erzählgegenstände des modernen Romans. Der Prozeß des Erinnerns bringt zunächst mit sich, daß sich die erinnernde Person den Assoziationen, dem Strom des Bewußtseins hingibt. Dieser an sich grenzenlose Prozeß wird aber strukturiert: durch die literarische Form und die Sprache des Erzählens; d.h., der Prozeß des Erinnerns verdichtet sich zum Erzählen von Geschichten. Und das ist für das Buch von Vladimir Vertlib kennzeichnend und macht es für mich so spannend. Der Erzähler schildert eigene Erinnerungen (z.B. sehr berührende Szenen aus seiner Kindheit), aber auch die Erinnerungen anderer. So entstehen Geschichten: erlebte Vergangenheit, Gehörtes und Erlebnisse anderer Personen verweben sich mit Phantasie und Fiktion. Die verschiedenen Zeitebenen, die Geschichten der einzelnen Personen treten miteinander in Dialog. Und die Frage nach der Grenze zwischen Autor und Erzähler stellt sich überhaupt nicht mehr. Erinnerung ist auch in anderer Hinsicht ein wichtiger Begriff für dieses Buch: Die Erfahrung von Emigration und Exil, die ständigen Ortswechsel usw., bedingen eine große existentielle Ungesichertheit. Erinnerung — und zumal eine schreibende Erinnerung steht immer auch im Dienste der Identitätssuche — und umgekehrt ist es auch so, daß sich Identität im Wege der Erinnerung herstellt. An dem Buch fasziniert mich u.a., daß der Jugendliche Erzähler zwar natürlich an der Brüchigkeit und Unsicherheit seines Emigrantendaseins leidet, Ausgrenzung und Isolation erfährt, aber damit durchaus umzugehen weiß: Indem er durch sein Erzählen nichts festschreibt, so viele Stimmen zuläßt, so viele andere Personen mit ihren Geschichten zu Wort kommen läßt, kann aus der exstentiellen Ungesichertheit eine neue Qualität entstehen: nämlich die Chance einer grundsätzlichen Offenheit, die die eigenen Identität nicht als etwas Abgeschlossenes, Eindeutiges begreift. In diesem Buch wird die Möglichkeit zu einer Weltoffenheit spürbar, die zwar sehr wohl den eigenen Standpunkt immer wieder auslotet, aber auch anderes zulassen kann. Und das ist für mich durchaus eine hoffnungsvolle Sicht in unserer Zeit des weltweiten erzwungenen oder auch freiwilligen Nomadentums: daß es möglich sein kann, bei sich selbst und gleichzeitig auf Wanderschaft zu sein. Michaela Hasenauer, geboren 1964 in Salzburg, studierte Slawistik und Germanistik in Salzburg und arbeitet derzeit in der Stadtbücherei Hallein.