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Er half den Emigranten Ludwig Czech zum 125. Geburtstag Seit meiner frühesten Kindheit war mir der Name Ludwig Czech vertraut. Es verging wohl kaum ein Tag, an dem in unserer Familie, wir lebten damals in Neu-Titschein, sein Name nicht genannt worden wäre. Er war mit meinem Vater seit der Wiener Studienzeit befreundet, kannte aber auch schon meinen Großvater, der an der Wiege der Neu-Titscheiner Arbeiterbewegung gestanden war. Als Kind war ich übrigens Czech nicht gerade wohlgesinnt. Das hatte folgenden Grund: Mein Vater war zu jener Zeit recht leidend. Es hieß, er habe Magengeschwüre. Czech war gerade in die Prager Regierung eingetreten. Vater wurde Landesvertreter im mährischen Landtag und mußte häufig nach Brünn und Prag reisen. Mutter jammerte, daß dies seiner Gesundheit nicht zuträglich sei. Ich hatte damals gerade die erste oder zweite Volksschulklasse absolviert, lauschte aufmerksam jenen Familiengesprächen und entschloß mich schließlich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Kurzerhand verfaßte ich einen an Minister Czech in Prag adressierten Brief, in dem ich ihm an Stelle meines Vaters einen bekannten Neu-Titscheiner „Reisenden“ (er handelte mit Seife) empfahl. Mangels einer gültigen Briefmarke frankierte ich das Schreiben mit einer bereits abgestempelten und gab es auf. Der Brief, der übrigens später wieder in die Hände meines Vaters gelangte und bis heute bei uns verwahrt wird, erregte im Ministerium große Heiterkeit. Der Vorschlag mit dem Seifenverkäufer wurde zwar nicht realisiert, aber es fand sich eine andere Lösung. Wir übersiedelten nach Brünn. Hier unterzog sich mein Vater einer Operation und konnte sich wieder der Politik widmen. An seinem Krankenbett im Brünner Anna-Spital lernte ich Czech persönlich kennen. Er war stets gütig und freundlich, hatte oft Süßigkeiten für mich bereit. Mein einstiger Groll legte sich. Auch mit seiner Gattin, der guten Tante Lilly, und dem Bruder Emil, der die gemeinsame Anwaltskanzlei allein betrieb, während Ludwig sich mit der hohen Politik befaßte, schloß ich Freundschaft. Wir unternahmen gemeinsame Ausflüge in die schöne Brünner Umgebung, an denen Ludwig jedoch zu Lillys Leidwesen nur selten teilnahm. Solche Expeditionen lehnte er meist mit den Worten „Was hab ich im Wald zu suchen, ich bin doch kein Reh“ ab. Soweit einige persönliche Erinnerungen. Aber wer war nun Ludwig Czech tatsächlich? Seine Eltern stammten aus Mähren. Er wurde am 14.2. 1870 in Lemberg geboren, wuchs in Brünn auf, studierte in Wien Jura, trat in Brünn der sozialdemokratischen Partei bei, war Redakteur des Brünner Tagblattes Volksfreund, Kommunalpolitiker, nahm an allen Parteitagen der österreichischen Sozialdemokratie teil, setzte sich leidenschaftlich für das allgemeine Wahlrecht ein, sprach gemeinsam mit Victor Adler, Franz Schuhmeier und polnischen wie tschechischen Vertretern am 31. Oktober 1905 vor dem Gebäude des österreichischen Nationalrates. 1919 wurde er zum Stellvertreter Josef Seligers in der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei der CSR gewählt und, nach dem frühzeitigen Tod Seligers im Jahre 1920, dessen Nachfolger als Vorsitzender der Partei. Dieses Amt übte er bis 1938 aus. Nachdem es klar geworden war, daß der gewünschte Anschluß Deutsch-Böhmens und der Sudetenländer an die österreichische Republik nicht möglich war, setzte sich Czech leidenschaftlich für den demokratischen Aufbau eines Nationalitätenstaates CSR ein. Seine Partei versuchte eine Autonomie-Lösung für die Minderheiten im Staate zu erreichen und trat 1929 in die Regierung ein. Czech war nacheinander Minister für soziale Fürsorge, Arbeits- und schließlich Gesundheitsminister. Seine besondere Liebe galt dem Arbeiterbildungsverein, dessen Bibliothek er aufzubauen half. Als im Hungerwinter 1932/33 die Arbeitslosenzahl mit nahezu einer Million ihren Höhepunkt erreichte, erzwang Czech einen Regierungsbeschluß, der zur Verteilung von Lebensmittelanweisungen, den sogenannten „Czechkarten“, führte. Czech unterstützte ferner maßgeblich die sozialdemokratische Emigration sowohl aus Hitlerdeutschland wie aus Österreich. Die Verhältnisse spitzten sich indessen in der CSR immer mehr zu. Im Frühsommer 1938 fand eine Großkundgebung der Partei in Mödritz bei Brünn statt, wo auch Czech sprach. Ich glaube, es war sein letztes Auftreten in der Öffentlichkeit. Wir fuhren gemeinsam mit Czech und Lilly mit dem Personenzug nach Brünn zurück. Die Stimmung war recht gedrückt. Czech trat als Parteivorsitzender zurück. Sein Nachfolger wurde Wenzel Jaksch. Es wäre für Czech an der Zeit gewesen, zu emigrieren. Ein Sondervisum nach Holland lag für ihn und Lilly bereit. Aber er, der so viel für die Flüchtlinge getan hatte, dachte selbst nicht daran, seine Heimat zu verlassen. Die Gestapo ließ ihn anfangs in Ruhe. Aber 1942 setzte schließlich die Brünner NSDAP bei Hitler durch, daß Czech und seine Frau nach Theresienstadt deportiert wurden, wo er kurz danach starb. Lilly Czech kehrte nach dem Krieg nach Brünn zurück und fand Aufnahme bei einer ehemaligen tschechischen Hausangestellten. Aber als Deutsche erhielt sie keine Rente, war völlig mittellos. So ging sie nach England und dann nach Wien, wo sie in einem Altersheim starb. Eine verspätete Ehrung wurde Ludwig Czech, dieser großen Gestalt der österreichischen und sudetendeutschen Arbeiterbewegung, am 1. September 1993 zuteil. Auf dem Gelände des Konzentrationslagers Theresienstadt, der Stätte seines Todes, wurde für Ludwig Czech im Rahmen einer eindrucksvollen Feier der SeligerGemeinde, an der, neben einigen hundert Gästen aus dem In- und Ausland, auch Staatspräsident Havel, Bundeskanzler Vranitzky, HansJochen Vogel, Volkmar Gabert und, als Vertreter seiner Heimatstadt Brünn, der stellvertretende Primator Dr. Ludek Zahradnicek teilnahmen, eine Gedenktafel enthüllt. Dora Müller Gedenken an Richard Berczeller Bericht über ein Symposion in Mattersburg Am 25. März wurde im Literaturhaus Mattersburg im Burgenland ein Symposion abgehalten, das Richard Berczeller gewidmet war. Dieser wohl bekannteste burgenländische Emigrant ist im Jänner vergangenen Jahres 91jährig in New York gestorben. Über sein Leben und dessen viele Stationen - geboren in Ödenburg/Sopron, Arzt in Mattersburg, Exil in Paris, dann in New York — wurde seit Februar im Mattersburger Literaturhaus eine Ausstellung gezeigt. Das Symposion sollte gewissermaßen die Hintergründe dieser sehr unterschiedlichen Lebensstationen erhellen. Die Atmosphäre der Veranstaltung war eine teilweise sehr persönliche. Die Witwe Richard Berczellers und weitere Familienangehörige waren anwesend, und einige der Symposionsteilnehmer hatte eine manchmal viele Jahre dauernde Freundschaft mit Richard Berczeller verbunden. Dementsprechend waren einige der Referate auch sehr persönlich gehalten. Der frühere österreichische Bundeskanzler Fred Sinowatz beispielsweise, der als Berichterstatter nicht objektiv sein. konnte und wollte, weil er Richard Berczeller einfach ,,zu gut kannte“ und weil er ihn ‚vor allem sehr gern hatte“. Als Historiker beschäftigt sich Sinowatz viel mit der Geschichte der Sozialdemokratie im westungarisch-burgenländischen Raum. In Richard Berczeller war er einem Zeitzeugen begegnet, der durch seinen Vater Adolf Berczeller die führenden burgenländischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit noch persönlich kennengelernt hatte. Für den Sozialphilosophen Norbert Leser, einen weiteren Referenten, waren diese Erinnerungen Richard Berczellers Anstoß zu einem gemeinsamen Buch mit Porträts burgenländischer Politiker gewesen, unter ihnen die sozialdemokratische Führungsfigur Ludwig Leser, die für Norbert Leser, den Neffen Ludwig Lesers, und Richard Berczeller gleichermaßen „, Vaterfigur“ gewesen war. Bewußt persönlich hielt auch der Journalist Joachim Riedl sein Referat über die Emigrantenszene in New York, in der er auch Richard Berczeller kennengelernt hatte. ‚‚Streiflichter‘“ sollten es sein über das, was ihn Richard Berczeller und andere Emigranten gelehrt hatten. Daß Exil niemals ein heroisches Abenteuer ist, die große Bewährungsprobe großer Geister, sondern immer erbärmlich, eine Existenz am Rand. „Ein Mensch kann viele Heime haben, aber nur eine Heimat“, zitierte Joachim Riedl Richard Berczeller. Aber: ‚‚Heimat wechselt allzu leicht die Besitzer und blickt als einzige nicht zurück über die Schulter und fragt, wen habe ich verloren?“ Auch die österreichische Sozialdemokratie holte nach 1945 nur einzelne Emigranten „heim“. Der Politologe Anton Pelinka nannte das in seinem Vortrag einen Integrationsversuch, der im Unterschied zu anderen nicht geglückt ist. Während die Integration zwischen älterer und jüngerer Generation innerhalb der Sozialdemo37