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Referenten eine schwierig zu meisternde Vorgabe war. Weder (zu) enge Detailstudien noch oberflächliche Rundumblicke waren gefragt. Vorangetrieben werden sollten die „systematischen Bestandsaufnahmen“ als auch die noch nicht „ausreichenden Forschungen funktionaler und ästhetischer Aspekte“. Überdies sei „‚eine Analyse der kulturpolitischen Bedingungen mit Schwerpunkt Literatur langst tiberfallig“. Heterogen, aber einander umso erhellender waren die Themen und methodologischen Zugänge der Referenten. Die Bandbreite der Themen reichte von Aspekten des (kultur)politischen und geistig-emotionalen Voraussetzungssystems in Österreich und der Schweiz (z.B. Rationalisierungs- und Säkularisierungsprozesse, Modernisierungseuphorie und -angst, Technikbegeisterung und -angst, politisch-rassistische ,,Reinigungsbestrebungen“) tiber Probleme bei der Rekonstruktion von Kunst und Literatur in einem totalitären Staat bis zu Studien über regionale kulturelle Gegebenheiten (Tirol, Steiermark). Exemplarische Studien zu einzelnen SchriftstellerInnen und literarischen Genres standen unter jeweils spezifischen erkenntnisleitenden Interessen: Arnolt Bronnen — Probleme der Identität; Paula Ludwig — Widerstand; die Instrumentalisierung der Kinderliteratur; NSFunktionär Max Stebich; Josef Weinheber als Nazi-Ideologe; Karl Heinrich Waggerls Beitrag zur Festigung der Heimatfront; Rudolf Billinger und homosexuelle Identität in der NS-Zeit. Außerdem beschäftigten sich ReferentInnen mit nazistischem „Satire“ -Journalismus, mit der Herausbildung einer genuin nationalsozialistischen Theaterästhetik am Beispiel der Burgtheaterinszenierung eines Stückes von Hermann Graedener, mit der Rezeption österreichischer Bühnenliteratur an deutschsprachigen Theatern während der NS-Zeit, mit Propagandafilmen der Wien-Film und der ,,Arisierung“ der Wiener Kinos, mit aktuellen Fragen der Quellen- und Aktenlage und mit Bereichen des Literaturkommunikationssystems: Literaturförderung und Zensur; Beziehungen AutorVerleger; Vernichtung des literarischen Vereinslebens nach 1938; deutsch-völkische Diskursformen in der Literaturwissenschaft; Rolle von Literaturzeitschriften in Österreich 1938; ideologische und ästhetische Freiräume im Literatursystem des NS-Regimes. Auffällig war, daß empirisch-positivistische Faktizität hoch im Kurs stand, während soziologische, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen eine untergeordnete Rolle zu spielen schienen. Auch ideen- und diskursgeschichtliche Konzeptionen wurden wie tiefenpsychologische nur vereinzelt zur Diskussion gestellt. Es bleibt völlig unbestritten, daß die Literaturwissenschaft gerade auf dem in Rede stehenden Untersuchungsfeld noch immer empirische Daten gewinnen muß, um den historisch-gesellschaftlichen Kontext von Literatur adäquat beurteilen zu können. Gerade hierin zeigten sich auf der Tagung die Fortschritte. Daß sich jedoch Referenten auf die ästhetischen 40. Dimensionen literarischer Texte einließen und Fragen nach geschichtlicher Tradierung und Wirksamkeit der behandelten Ästhetiken stellten, war eher die Ausnahme als die Regel. Wasserdicht Nachprüfbares, also sogenannte Fakten, hatte Vorrang vor vielleicht Fragwürdigem, welches der Interpretation und damit dem Irrtum ausgesetzt erscheint. Ich plädiere nicht für das Aufwärmen herkömmlicher Hermeneutik oder gar spekulatives Herangehen. Davor schützt nicht zuletzt die bei der Tagung so stark betonte Empirie. Daß sich gerade im Anschluß an ein Referat über Josef Weinhebers Rolle im und für den Nationalsozialismus der Vortragende mit heftigen Vorwürfen aus einem Teil des Publikums konfrontiert sah, den großen Künstler Weinheber unberücksichtigt gelassen zu haben, muß zu denken geben. Die ältere Generation lasse sich den Künstler Weinheber, auch wenn er politisch gefehlt haben mochte und sich überdies sogar selbst richtete, nicht denunzieren, hieß es. Von Denunziation freilich konnte keine Rede sein, aber wäre es nicht generell notwendig, das Ästhetische in all seinen Dimensionen stärker, als es bei dieser Tagung geschah, in den Mittelpunkt der Beschäftigung zu rücken? Ästhetiken der Macht, die Macht der Kunst, der Begriff der Kunst, die Kunst als Dienerin und Wegbereiterin von Macht, ja von terroristischer Gewalt, die Kunst als Gefäß des Widerstandes — Themen, die zwar wiederholt angedeutet, aber dennoch zu wenig angesprochen blieben. Noch eine kritische Anmerkung: Ein adäquates Reden über die behandelten Themen bedarf einer reflektierten Metasprache, die den Standpunkt des Vortragenden offen zu erkennen gibt. Es bedarf auch einer genauen Kenntnis des deutsch-völkischen und nationalsozialistischen Diskurses, seiner Argumentationsweisen und Traditionen. Die fehlende Reflexion könnte dazu führen, daß z.B. die Aufzählung historischer Fakten und die nicht reflektierte Verwendung von Diskurselementen aus dem NS-Kontext — ungewollt - auch als Leistungsbilanz der Nationalsozialisten gehört werden könnte. Die einen konnten — faktengläubig — das Referat loben, weil ja nichts Falsches berichtet wurde und sie selbst ohnehin wußten, in welch verwerflichen, nämlich rassistischen Kontext die genannten Tatsachen gehören. Aber auch jene anderen durften zufrieden sein, die schon immer wußten, daß die Nationalsozialisten angeblich fiel für die Steiermark taten. Objektive Wissenschaft? Dank muß ausgesprochen werden für die vorbildliche Organisation (Unterbringung, Zusatzprogramm usw.) der Tagung. Das sehr gut gestaltete Programmheft und die Pressearbeit setzten Maßstäbe für zukünftige Symposien. Karl Müller Macht Literatur Krieg. Internationales Symposion zur österreichischen Literatur im Nationalsozialismus. Graz, 3.-6. April 1995. Veranstaltet vom Institut für Germanistik der Universirät Graz, konzipiert vom Forschungsprojekt „Österreichische Literatur im Nationalsozialismus. Organisation: Mag. Sabine Rupp. ReferentInnen: Friedbert Aspetsberger, Uwe Baur, Albert Berger, Evelyn Deutsch-Schreiner, Boguslaw Drewniak, Walter Fritz, Eckart Früh, Karin Gradwohl-Schlachter, Franz Grafl, Murray G. Hall, Ernst Hanisch, Johann Holzner, Rudolf Jeräbek, Stefan Karner, Gert Kerschbaumer, Peter Langmann, Ulrike Längle, Sebastian Meissl, Wolfgang Muchitsch, Karl Müller, Hubert Orlowski, Oliver Rathkolb, Ernst Ritter, Gerhard Ruiss, Sabine Rupp, Sigurd Paul Scheichl, Martin Stern, Helga Strallhofer-Mitterbauer. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer In dieser großangelegten, detailliert ausholenden und auch den Kontext der gesamteuropäischen Mythenrezeption berücksichtigenden Studie analysiert Armin A.Wallas erstmals den Entwurf eines alternativen Bildes der Antike, in dem der Wiener expressionistisch-jüdische Dichter Albert Ehrenstein die geistigen Traditionen Griechenlands, Chinas und des Judentums integrierte und kombinierte. Ehrensteins Versuch der ,,Mythenzerstérung und Mythenparodie bei gleichzeitiger Mythensuche“, wie Wallas formuliert, war zugleich auch eine imaginare Flucht in mythologische Phantasieländer aus den existentiellen Noten und Erfahrungen in seiner Jugend, ,,soziales Elend, Antisemitismus, kleinbiirgerliche Enge, Repression in Elternhaus und Schule.“ Mit Hilfe der griechischen Mythen verfremdete Ehrenstein in seinem Werk sowohl die existentielle Situation des modernen Menschen als auch die besonderen Note des jiidischen Intellektuellen in einem antisemitischen Europa, das sich langsam zu ,,Barbaropa“, wie er es spater nannte, wandelte. Ehrenstein projizierte aber zugleich seine sexuellen Phantasien sowohl in die Mythen der Antike als auch in die friihen Traditionen des Judentums. Wallas beschrieb daher auch ausfiihrlich Ehrensteins misogyne Tendenzen, sein Schwanken zwischen Liebesverlangen und Frauenverachtung, mit dem er ebenfalls biographisch bedingtes Leid - darunter seine unglückliche Liebe zu Elisabeth Bergner — durch die literarische Diffamierung und Verachtung der Frau kompensierte. Nicht weniger ambivalent verhielt sich Ehrenstein zu seinem Judentum; manche seiner Riten, aber auch Rabbiner und Religionslehrer lehnte er genauso ab wie später den Zionismus, während er aber dennoch von jenem Teil seines kulturellen Erbes und der Identifikation mit den unterdrückten, verfolgten und ausgegrenzten Juden niemals loskam. Im Gegensatz zu seinem Jugendfreund Eugen Hoeflich (später Moshe Ja’akov Ben-Gavriél), der bereits 1927 nach Palästina auswanderte, betonte Ehrenstein immer und ausschließlich die Rolle der Juden als Ferment europäischer Kultur und ließ sich darin auch nicht von seinen beiden Palästinareisen