Federn arrangiert sich entsprechend den Lebensbedingungen im KZ-System, ist am
Anfang seiner Lagerzeit als Trotzkist noch nicht gefährdet, weil die aus den kommu¬
nistischen Parteien stammenden Funktionshäftlinge noch keinen Wert auf die Bekämp¬
fung des Trotzkismus legen. Kenntnisse über die Trotzkistenverfolgungen in der
Sowjetunion waren noch nicht ins Lager gedrungen, und viele kommunistische Häft¬
linge hatten selbst trotzkistische oder rechtsoppositionelle Wurzeln. Über die Zunahme
dieser Gefährdung wird später noch zu berichten sein. Und nicht verschwiegen werden
soll, daß Federns beinahe penetranter Optimismus von seinen Mithäftlingen als Ver¬
rücktheit betrachtet wurde. Seine Realitätsleugnung ging zwar nie so weit, daß er
bedrohende Realitäten übersah, aber er hat ein wenig den Narren gespielt. Ich kann mir
vorstellen, daß seine stehende Redewendung ‚‚Wenn ihr mit mir seid, kommt ihr auch
mit mir heraus!“ seinen Kollegen nicht nur auf die Nerven gegangen sein wird, und
außerdem hatte seine quasi unrealistische Lebensbejahung den Nebeneffekt, daß man
ihn politisch auch nicht so ernst genommen hat.
Im September 1938 ändert sich die Lage der Dachauer Häftlinge einschneidend, das
KZ-Dachau wurde vorübergehend geräumt. Im Rahmen der Aggression des NS-Staates
gegen die CSR wurde eine andere Verwendung des am nächsten zur deutsch-tschecho¬
slowakischen Grenze gelegenen Lagerkomplexes ins Auge gefaßt. Die jüdischen
Häftlinge Dachaus wurden nach Buchenwald verlegt, Ernst Federn wurde am 24.
September 1938 mit der Bahn ohne besondere Vorkommnisse dorthin transportiert. Die
Dachauer waren die zweite große jüdische Häftlingsgruppe, die ins KZ-Buchenwald
eingliefert wurde.” Die erste große Gruppe waren die sog. „‚asozialen Juden“ der
„Juniaktion“ von 1938. Die SS hat sich an diesen ersten jüdischen Häftlingen ausge¬
tobt, nach vier Monaten waren ca. 40 Prozent dieser 1256 Menschen verstorben.®
Ernst Federn ist bei seiner Ankunft in Buchenwald erschüttert, der Schlamm der
Lagerstraßen, unvorstellbare sanitäre Verhältnisse und Überbelag prägen das Lager. Im
vollgestopften Block teilen sich drei Häftlinge zwei kleine Schlafkojen. Federn arbeitet
im Herbst 1938 mit Schaufel und Spitzhacke im Schachtkommando des großen
Baukommandos I. Und der schreckliche Winter 1938/39 zeitigt in der klimatisch
ausgesetzten Lage am Ettersberg Folgen: Federn bekommt Erfrierungen an den Hän¬
den, was vielen Häftlingen in diesem Winter widerfahren ist. Der SS-Lagerführer
Johnny Hackmann befiehlt ihn ins jüdische Revier, dort muß sich Federn um eine
Behandlung selbst kümmern. Der zum Chirurgen angelernte Häftling Kurt Donnhart,
ein Bergarbeiter, interessiert sich auffällig für den Ödipus-Komplex, welcher ihm von
Federn erklärt wird. Darauf säubert ihm Donnhart als Gegenleistung die Gangrene des
Handrückens. Federn interpretiert diese Operation als Lebensrettung und als das größte
Honorar, das ein Psychoanalytiker erhalten kann. Im Winter kommt er noch einmal
wegen Erfrierungen der Zehen ins jüdische Revier, er wird dort konservativ behandelt,
dadurch kann er sechs Wochen — die schlimmste Zeit des Winters und die hohe Zeit
der Typhusepidemie — im Revier bleiben. Erholung ist möglich und er hilft im
Gegenzug bei der Pflege mit.
Nach den Gefährdungen folgt in Ernst Federns Erinnerung 1939 als ,,nette Zeit“,
er kann sich im Latrinenkommando einrichten, in dem man die Latrinengruben in
die Erde gräbt und von der SS daher bald nicht mehr gesehen wird, sich also schonen
kann. Sein Freund Curt Leeser kann dem SS-Lagerarzt Dr. Ding-Schuler begreiflich
machen, daß wegen der Seuchengefahr Chlorkalk auf die Latrinen gestreut werden
muß. Leeser bildet mit Ernst Federn das Chlorkalkstreuerkommando, das über hohe
Bewegungsfreiheit verfügt, das früher einrücken kann und dem ein Bad zusteht.
Außerdem ist die SS Häftlingen, die mit den Latrinen zu tun haben, nicht zu nahe
gekommen.
Hier muß nun zum weiteren Verständnis der Geschichte Federns ein Begriff vom
KZ-System versucht werden. Ich werde ihn am Beispiel Buchenwalds entwickeln, das
viele Funktionen des KZ-Systems in sich vereinigte, und in dem Ernst Federn sechsein¬
halb Jahre zu leben gezwungen war. Das Konzentrationslager Buchenwald wurde im
Juli 1937 gegründet, in ihm stand die Konfinierungsfunktion von politischen Gegnern
nicht mehr im Vordergrund. Ab 1936/37 verschlimmern sich aufgrund der beginnenden
Expansion des 3. Reiches und der Einbeziehung immer neuer und größerer Gruppen in
die Verfolgung die Bedingungen in den Lagern extrem. Die Lager werden überbelegt
und die Häftlinge werden durch Überarbeit vernichtet. In der Aufbauphase des KZ-Bu¬
chenwald von 1937-39 sind die Lebensbedingungen katastrophal, so macht die jährli¬
che Todesrate 1940 zwanzig Prozent des Häftlingsstandes aus.’ In Buchenwald war die
Vernichtungs- und Ausbeutungsfunktion des Lagers immer parallel vorhanden, aber in
Der Schriftsteller als
Leichenträger
Der begabte junge Dichter Jura Soyfer starb
am 16. Februar 1939 im Konzentrationsla¬
ger Buchenwald in seinem 25. Lebensjahre.
[...] Da alle Häftlinge beschäftigt werden
mußten, hatte auch er eine Arbeit zu ver¬
richten. Man sollte meinen, daß Soyfer als
junger, begabter Mensch wenigstens eini¬
germaßen seinen Fähigkeiten angemessen
beschäftigt worden wäre, etwa als Schrei¬
ber oder bei einem anderen günstigen Kom¬
mando. Aber wer den abgrundtiefen Wider¬
willen der Nazi gegen geistige Werte ken¬
nengelernt hat, wird sich nicht darüber
wundern, welches Amt sie dem Dichter
Jura Soyfer in Buchenwald zugewiesen hat¬
ten: er war dort als Leichenträger tätig. Sei¬
ne Hauptaufgabe bestand darin, die Toten
in Decken einzuwickeln und sie mit Hilfe
anderer Häftlinge auf einer Bahre zum La¬
gertor zu tragen, wo er dem dienstführen¬
den Scharführer den Abgang aus dem Lager
zu melden hatte. Dieser stellte dann die
Zahl fest, so gleichgültig wie ein Fa¬
brikspförtner, der die auslaufenden Kolli
kontrolliert. Hierauf wurde die tote Men¬
schenfracht in längliche Holzkisten ge¬
zwängt, mit Sägespänen überschüttet, der
Deckel mit einem einfachen Haken verrie¬
gelt und alles auf ein Lastauto verladen, das
zum Krematorium nach Weimar fuhr. So
ging es den ganzen lieben Tag, denn die
Sterblichkeit im Konzentrationslager Bu¬
chenwald war eine hohe. Bauchtyphus wü¬
tete dort und sanitäre Gegenmaßnahmen
waren so gut wie keine getroffen. Jura
Soyfer verrichtete unermüdlich seinen
Dienst. Er betrachtete ihn als eine Art Schu¬
le für sich. Oft erzählte er mir, welch ein¬
zigartiges Material er durch die bei seiner
Beschäftigung gewonnenen Eindrücke
sammle, ein Material, wie er es sich sonst
nirgendwo beschaffen könne. Eines Tages
aber ereignete sich das, was bei dieser Ar¬
beit, wo Soyfer die Leichen mit den bloßen
Händen anzufassen hatte, leider zu erwar¬
ten war. Er holte sich den Keim zu einer für
ihn tödlichen Krankheit. Unter allen Zei¬
chen der Typhusseuche brach er bei seinen
Toten zusammen und mußte mit hohem
Fieber zu Bett gebracht werden. Grausames
Spiel des Schicksals! Auf seinem Schmer¬
zenslager erreichte ihn zur selben Stunde
die Nachricht, daß er aus dem Lager entlas¬
sen werden und seinen nach U.S.A. emi¬
grierten Eltern dorthin folgen sollte. Ihrem
Gesuch, das sie für ihn an die Wiener
Gestapo gerichtet hatten, war stattgegeben
worden, weil sie ein Auslandsvisum be¬