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Leonore Krenzlin „Innere Emigration‘ — Schlagwort und Phänomen (Thesen aus ‚„reichsdeutscher“ Sicht) 1. Der Terminus ‚‚Innere Emigration“ muß unscharf sein: Er setzt den Begriff der Emigration, der Flucht über die Grenzen voraus, wendet ihn aber auf Gruppen und Individuen im Lande an - ist also Metapher. Er impliziert verschwimmende Bedeutungsränder und Deutungsvielfalt — die Inanspruchnahme durch Jedermann für Mancherlei ist programmiert. Zumal er verwischt, daß die Voraussetzungen für die Entscheidung meist vor 1933 lagen: Wer mußte warum gehen, wer konnte warum bleiben? 2. Der Terminus hat besonders unter Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern eine Rolle gespielt, Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte können ohne ihn auskommen. Das ist kein Zufall: Stärker als jede andere Kunstart ist belletristisches Schreiben eine wertende Aussage über Weltzustände und deshalb realitätsbezogener und ideologieträchtiger. Autor und Werk geraten öfter ins Kraftfeld gesellschaftlicher Spannungen und damit ins Kreuzfeuer von Anforderungskatalogen und Richtersprüchen. Das führt zu verstärktem Rechtfertigungsbedarf und berechtigten Differenzierungsforderungen, doch wer kann sich in der Eile öffentlicher Polemik umständliche Erklärungen und lange Argumentationsketten leisten? Der harten Tatsache der Emigration ein Schlagwort zur Seite zu setzen, das die Problematik des Schreibens in der Nazizeit kennzeichnet, schien das Nächstliegende zu sein. 3. Legal war im Dritten Reich kein offener Widerstand möglich, eine Veröffentlichung von Texten erforderte auch bei bewußter Gegnerschaft gegenüber dem Regime Anpassung an die gegebenen Möglichkeiten (Günther Weisenborn, Adam Kuckhoff). Doch die Krux liegt nicht so sehr im Zwang zu indirekten Mitteln, die der Kunst ja gemäß sind, als vielmehr in der Rezeptionssituation: Die Unterbindung einer öffentlichen Literaturdiskussion durch die Interpretationsklischees führte dazu, daß auch ernst gemeinte Widerständigkeit instrumentalisiert und in eine manipulierte Öffentlichkeit integriert werden konnte. Dieser Entschärfung von Kritik und Protest stand jedoch bei Teilen des Publikums eine geschärfte Bereitschaft gegenüber, entsprechende oppositionelle Signale aufzunehmen. Dabei spielte eine Rolle, daß nationalsozialistische Kulturpolitik nicht einheitlich war — verschiedene Sachinteressen brachten Rivalitäten von Institutionen mit sich und verschafften den Schreibern kalkulierbare Spielräume. Umgekehrt kalkulierten die Institutionen den Einfluß von nichtnationalsozialistischen Autoren auf bestimmte oppositionelle Lesergruppen, die ruhiggestellt werden sollten („Frankfurter Zeitung“ und ‚Das Innere Reich“). ‚Innere Emigration“ als Gegenterminus zu Emigration und zu offener politischer Opposition zielt also auf ein problematisches Konglömerat. 4. Jeder literaturwissenschaftliche Gebrauch des Terminus muß daher differenzieren zwischen aktivem Widerstand (Werner Krauss) — bewußter Ablehnung nationalsozialistischer Herrschaftspraxis und Ideologie bei indirekt zum Ausdruck gebrachter, doch grundsätzlicher Distanz (Ernst Wiechert) — wenig reflektierter, doch praktisch wirksamer Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus aufgrund von traditionsgeprägten Haltungen (Werner Bergengruen) — Betonung abweichender Aspekte bei gleichzeitig vorhandenen Übereinstimmungen mit vielen der öffentlich propagierten Denkmuster (Ernst Jünger) — und folgenlos bleibendem, verschwommenem Gefühl des Fremdseins im eigenen Lande (Hans Carossa). Haltung und Handeln von Schriftstellern auf der Folie solcher Skalen zu erörtern und zu bewerten, kann Sinn machen. (Walter v. Molos Protest gegen das NS-Regime entpuppt sich als Verärgerung darüber, daß man ihn abgehängt hatte). Um schematischer Zuordnung zu entgehen, müssen Zuordnungskriterien und Entwicklungsmomente reflektiert werden: Die Einsicht in den wirklichen Charakter der Naziherrschaft kam oft schrittweise, manche späteren Widerständler neigten zunächst zur Akzeptanz des Regimes (Reinhold Schneider). 5. Die Skala ist anwendbar auf Autobiographien und Werkgeschichte — doch sie versagt, wenn ästhetische Urteile über Einzelwerke und Gesamtwerk zur Diskussion stehen: Gesinnung und Integrität eines Autors einerseits, der „Kunstwert‘“ eines Textes andererseits können sich widersprechen; auch subjektive Aussageintention und reale Wirkung eines Textes müssen sich nicht decken; Eindeutigkeit der poetischen ‚‚BotLeonore Krenzlin studierte Germanistik an der Humboldt-Universität in Berlin, war dort 1959-64 wissenschaftliche Assistenz. 1965-66 Kulturredakteurin beim ‚Neuen Deutschland“, wurde sie wegen Protest gegen das 11. Plenum des ZK der SED und gegen die Maßnahmen gegen Wolf Biermann entlassen und blieb darum bis 1970 arbeitslos. Freie Mitarbeit in der Exilgruppe am Institut für deutsche Literatur der Akademie der Wissenschaften und von 1970-91 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralinstitut für Literaturgeschichte. 1978 Promotion über Hermann Kant (erschien als Buch inmehreren Auflagen). Studien über völkische und nationalsozialistische Literatur und zur Literatur der ‚‚Inneren Emigration“. Seit 1992 wieder arbeitslos. Arbeitete zuletzt am ‚Lexikon sozialistischer Literatur“ mit. Josef Haslinger Fünfzig Jahre nach der Befreiung ... Fünfzig Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wäre nachdrücklich daran zu erinnern, daß der Kampf gegen die Barbarei nicht nur von Armeen geführt wurde. Es war auch ein intellektueller Kampf. Es ist durchaus in Ordnung, daß in funktionierenden demokratischen Gesellschaften die Rolle der Intellektuellen eher bescheiden ist. Das heißt aber nicht, daß es in bestimmten Bereichen, zum Beispiel in Menschenrechtsfragen, nicht spezifische Aufgaben gäbe, die nur von den Intellektuellen wahrgenommen werden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Westeuropa immer noch Diktaturen, in Griechenland, in Spanien, in Portugal. Hinzu kam ein ganzes System von Diktaturen in Osteuropa, mit zunächst erfolglosen Aufständen in Berlin, Budapest und Prag. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das politische Engagement von Intellektuellen eine Selbstverständlichkeit, gleichsam eine moralische Verpflichtung. Wie immer sie sich gegenüber einer bestimmten Macht verhielten, sie hatten ihren Standpunkt zu rechtfertigen. Schweigen konnte leicht als heimliche Zustimmung ausgelegt werden. In ganz Europa, im Osten und im Westen, waren die Schriftsteller Tag für Tag in verschiedenste politische Aktivitäten involviert. Sie schrieben nicht nur Bücher, sie hielten Öffentliche Reden, organisierten Kundgebungen, gründeten politische Vereinigungen und bewar19