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Drei Belegstellen aus Erika Mitte¬
rers „Der Fürst der Welt“

Bis zur Erbauung des Turmes war der Ju¬
denkeller das einzige Gefängnis der Stadt
gewesen; seinen Namen.hatte er vor zwei¬
hundert Jahren bekommen, als die von der
Pest verstörte Bevölkerung die Brunnen¬
vergifter ausrotten wollte. Stehend hatte
man die Männer mit den Schläfenlocken
unter den spitzen gelben Hüten mitsamt
ihren Weibern und Kindern in die Verliese
gepfercht, bis sie durch freiwillige Geständ¬
nisse ihre Seelen erleichtert hatten und der
Rauch von den häuserhohen Scheiterhau¬
fen über die Dächer zog, letzte Schlupfwin¬
kel der Seuche heilsam ausräuchernd. Seit¬
dem dienten die Ratskeller nur fremden
Bettlern zum Aufenhalte, bis ihre Herkunft
ausgeforscht war und sie entweder der
Landstraße oder dem Richter überantwortet
wurden. Überführte Verbrecher verbüßten
ihre Frist im Turm, wo sie gesünder unter¬
gebracht und leichter zu beaufsichtigen wa¬
ren.
Doktor Schuller begrüßte es, für seine In¬
quisition einen eigenen Keller vorzufinden.
Sonst hätte ja leicht ein gewöhnlicher Dieb
oder Frauenschänder dem ansteckenden
Übel der Ketzerei erliegen können.

(TEXT 1, S. 361f.)

Die Geistlichkeit hatte allen Grund, mit
dem Wiedererwachen des Glaubenseifers
in der heimgesuchten Stadt zufrieden zu
sein; beim Hochamt am Sonntag blieb im
Dom kein Platz frei; vor allem gaben die
Angehörigen der alten Familien, die Vertre¬
ter des vornehmen Bürgertums, ein gutes
Beispiel. Mit eingezogenen Hälsen ließen
sie die schlimmen Prophezeiungen und
Höllenbilder der aufgeregten Wanderpredi¬
ger über sich ergehen, und stumpfe Blicke
schläfrigen Vertrauens hingen am Munde
der gemäßigten einheimischen Priester.
Man betrachtete den Putz der Nachbarin¬
nen, man überzählte im stillen den Gewinn
der letzten Woche, während die Lippen die
geläufigen Formeln murmelten. Tod und
Teufel buhlten auf dem wilden Meere der
Leidenschaften um die nackten Menschen¬
seelen, aber man selbst saß, Gott sei Dank,
auf einer wohlgegründeten Insel inmitten
dieses Meeres, hörte nur von weitem den
Anprall der Wogen und durfte sich sicher
fühlen dank Ablaß und Erlösertod, geregel¬
tem Eheleben und mäßigem Zinsfuß, neuer
Polizeiordnung und geplanter Stadtmauer,
heil überstandener Seuche und deshalb ge¬
stifteter Pfründe, dank der frommen Vereh¬
rung köstlicher Reliquien und blutig leben¬
diger Wunder und dank dem väterlichen

28.

cezeit‘“ gefeiert, auch Kleppers Preußenroman wurde vereinnahmt. Rezeptionsästheti¬
sche Untersuchungen, die Strukturen der sogenannten „Sklavensprache“ sowie die
mehrschichtigen Aktualisierungspotentiale der Texte betreffend, werden hier zweifel¬
los weiter anzustellen sein.

Il.

Vergleicht man diese ‘reichsdeutschen’ historischen Romane mit Erika Mitterers ,,Der
Fürst der Welt“ (1940, Neuausgabe 1964, Neuauflage 1988, Böhlau) und dessen
Rezeption, ergeben sich wichtige Parallelen, aber auch Unterschiede. Wie mir Frau
Mitterer freundlicherweise mitteilte, wurde ihr Buch erst nach Jahren, und zwar vom
18. Verlag gedruckt (die politische Brisanz dürfte vielen Lektoren also nicht entgangen
sein). Die Aufnahme des umfangreichen und durch die zahlreichen, fein verästelten
Handlungsstränge mit über 70 zum Teil sehr genau gezeichneten Figuren nicht ober¬
flächlich lesbaren Romans durch die Zeitungskritik war überaus positiv, wenngleich
vielfach verschwommen und unverbindlich bis oberflächlich, wie z.B. im ‚‚Völkischen
Beobachter“ vom 2. 2. 1941: ‚So wird das bäuerliche, städtische und klerikale Leben
um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts in den Schicksalen und Handlungen der
Menschen dichterisch gedeutet und erfaßt, und was sich zum zeitgeschichtlichen
Ausdruck vielfältiger Windungen formt, ist doch zugleich auch wieder tiefer durch¬
drungen mit den Gehalten des Großen und Unbedingten, aus dem alles Leben wächst
und sich erfüllt.“ Demgegenüber war es die mehrfach erklärte Absicht der Dichterin
darzustellen, ‚‚wie es zur Machtergreifung des Bösen in einer scheinbar heilen Welt
kommen kann, (sie) schilderte es durch die Analogie der Inquisitions- und Hexenpro¬
zesse.‘“ Die Erika Mitterer beim Schreiben leitenden Fragen zielten (nach ihrer eigenen
Einschätzung) darauf ab, ‚‚wie es möglich ist, daß böse Mächte das Gesetz des Handelns
an sich reißen, obwohl es sehr wenige wirklich böse Menschen gibt; wie es sein kann,
daß wir alle zu Mitläufern, ja zu Mit-Helfern von Institutionen werden, ohne daß uns
das Ausmaß ihrer Perfidie bewußt wird“.

MI.

Nach einer breiten, genau recherchierten Darstellung des wirtschaftlichen, gesellschaft¬
lichen, politischen und familiären Lebens in einer süddeutschen Bischofsstadt am
Vorabend der Reformation schildert die Autorin langsame Veränderungen im sozialen,
ökonomischen und mentalen Gefüge der Stadt, die den Boden bereiten für jene
Massenpsychose, die durch das Eintreffen des Inquisitors in breiten Schichten der
Bevölkerung ausgelöst wird. Die Entstehung von Gerüchten in Krisenzeiten (eine
Seuche und die anschließende materielle Not werden als Voraussetzungen zu den
späteren Ereignissen dargestellt), religiöser Fanatismus, Untergangsprophezeiungen,
Wundergläubigkeit, aber auch kleinbürgerlicher Krämergeist, Neid und Argwohn dem
Nachbarn gegenüber, Eifersucht und Streben nach Macht, politischer Opportunismus
und moralische Korrumpierbarkeit — all das schildert Mitterer an zahlreichen Einzel¬
fällen, deren ineinander verwobene Geschichten sämtliche mit großer Detailgenauig¬
keit und psychologischer Subtilität erzählt werden, ohne daß es hier auch nur einmal
zu oberflächlicher Schwarz-Weiß-Malerei kommt. Ein zentrales Anliegen des Romans
ist dabei die vielschichtige und differenzierte Herausarbeitung von Massenwahnphä¬
nomenen mittels sozialpsychologischer, ökonomischer und politischer Analyse-Instru¬
mentarien, die auch bei der Figurenzeichnung dominieren. Die Schilderung der zahl¬
reichen Mitläufer während der grausamen Inquisitionsprozesse, das bewußte Weg¬
schauen, die Tradition von Judenpogromen im mittelalterlichen Deutschland (vgl.Text
D), die satte Selbstzufriedenheit einer sich inmitten der Verfolgungen von Mitbürgern
sicher fühlenden Mehrheit (vgl.Text ID, das Spitzelsystem der Inquisition, die unheil¬
volle Rolle der ‚zahllosen Masse der Halbentschlossenen, Halbbegeisterten, Laulie¬
benden“, die nur ersehnen, „‚daß endlich einer wieder stark genug wäre, um sie zum
Entweder-Oder zu zwingen, damit sie ihm folgen dürften in warmer Blindheit“ (8.450),
die sich seuchenartig verbreitende Bereitschaft zur Korruption und zur Denunziation
(die vor den Nachbarn, Freunden, sogar der eigenen Familie nicht halt macht) - all das
kann durchaus von den zahlreichen Lesern des Romans (Auflage 50.000) als chiffrierte
Darstellung zeitgenössischer Vorgänge gedeutet worden sein. (Nach einer norwegi¬
schen Rezension, die diese Tendenzen deutlich machte, wurde die Papierzuteilung
gestoppt). Die genaue und psychologisch vertiefte Figurenzeichnung zeigt sich u.a. in
der Charakterisierung des typischen Befehlsempfängers, der sich auf Autoritäten von
oben beruft und doch skrupellos den eigenen Karrieresprung verfolgt (die ,,Banalitat