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Alice Penkala (1902 — 1988) hat mehrere hundert Kurzgeschichten. verfaßt. Nur wenige davon berühren jedoch Themen wie Verfolgung, Krieg, Emigration. „Der Nußbaum meines Urgroßvaters“ ist eine von ihnen. Sie erschien im Mai 1946 im „Zeitspiegel“, der Zeitschrift des Free Austrian Movement in Großbritannien. Der Inhalt entspricht, wie ich feststellen konnte, weitgehend der wahren Geschichte von Alice Penkalas Elternhaus im 20. Wiener Gemeindebezirk, Dresdner Str.77, unter Zuhilfenahme von einigen dichterischen Freiheiten. Penkalas alter Freund aus der Vorkriegszeit, der in London lebende Schriftsteller, Übersetzer, Lyriker und Literaturagent Joseph Kalmer, hatte den Kontakt mit der Redaktion des ‚‚Zeitspiegel“ hergestellt. Er selbst arbeitete dort häufig mit und auch Alice Penkalas Texte wurden sofort angenommen und gedruckt. Für den ,, NuBbaum“ verwendete sie ihr Vorkriegspseudonym „Robert Anton“, ein Name, den sie zeitlebens nur unter Texte setzte, die ihr besonders am Herzen lagen. Sie war damals noch von der Bitterkeit über ihr Flüchtlingsschicksal geprägt, über Deklassierung, Rechtlosigkeit, Existenzprobleme. Jedoch nur im ‚„Zeitspiegel“, dessen Quintessenz klarerweise die Thematik Exil und Antifaschismus war, hatte sie den entsprechenden Leserkreis für Betrachtungen dieser Art. Schreiben war für Alice Penkala immer Lebenselixier. Die Vollblutjournalistin hatte seit dem 18. Lebensjahr Gedichte und Glossen veröffentlicht und arbeitete bis zur Auswanderung als Gerichtssaalberichterstatterin und Kurzgeschichten-Autorin intensiv bei österreichischen und ausländischen Zeitungen mit. Es war ihre zweite Natur, mit scharfem Auge Situationen einzufangen und literarisch zu verwerten. Trotz aller widrigen Umstände hatte sie im Exilort Tanger bereits wieder zu schreiben begonnen. Bei der Rückkehr nach Europa enthielt ihr Kotter einıge Kurzgeschichten 14 Alice Penkala Der Nußbaum meines Urgroßvaters „Den Nußbaum hat mein Urgroßvater gepflanzt. Ich weiß nicht, wann. Vielleicht, als er sein Haus baute, vielleicht, im 48er-Jahr, als er, wie so viele andere Wiener auf die Barrikaden gestiegen war, vielleicht, als sein ältester Sohn geboren wurde. Ich weiß nur, daß der Nußbaum seinen breiten, sanften Schatten über unsere Kinderspiele warf, daß er in einem kleinen Garten stand, daß er die besten Nüsse trug, die ich je gegessen habe und daß seine Blätter, wenn man sie zwischen den Fingern zerrieb, nach Nußtorte rochen. Der Garten war winzig wie das Haus. Es stand da, einstöckig und bescheiden zwischen den Fabriken und Zinskasernen der Dresdnerstraße in Wien. Hinter seinem Stück Miniaturlandschaft — staubige Büsche, blutarme Blumen und Glasscherben — dampften die Züge der Nordbahn. Von der anderen Seite her, vor der Fassade des Hauses, klingelten die Tramways, töfften die Autos. Aber hoch und unbekümmert wuchs der Nußbaum. Unter ihm war oft eine Wiege. „Kinder brauchen Landluft‘, hatte die Urgroßmutter gesagt. Sie verstand es; sie hatte 17 zu Welt gebracht und aufgezogen. Die Großmutter ließ ihre Kleinen also unter dem Nußbaum ‚‚Landluft‘“ atmen. Und meine Mutter auch. Der Nußbaum stand, groß und breit und schön, unbekümmert um die Stadt, als die Kinder, die unter ihm in der Wiege gelegen waren, alterten und starben. Als andere Kinder, zwischen 1914 und 1918 ‚‚des Kaisers Rock“ anzogen... Einer ist irgendwo in Italien verfault, einer aus Rußland nicht mehr zurückgekommen, einer hat sich in Serbien ein unheilbares Leiden geholt. Es stand noch als, 1938, von den Häusern links und rechts plötzlich fremde Fahnen wehten: Hakenkreuzfahnen. Unser kleines, altes Haus duckte sich schäbig zwischen ihnen. Es hatte viele Fahnen getragen, das Haus, im Laufe der Jahre. Sie waren alle, sauber eingerollt, auf dem Dachboden, wo die Kisten mit den alten Sachen waren und die Leinen zum Wäschetrocknen. Es waren alle möglichen.. aber eine mit Hakenkreuz war niemals darunter. Und dann kamen „sie“. „‚Sie‘“ waren höfliche Herren mit preußischem Akzent und sie wollten das Haus kaufen, mein Vater sagte, daß er nicht verkaufen wolle. „Wenn Sie nicht verkaufen wollen“ , sagte der Herr auf preußisch, ‚wenn Sie nicht wollen... wir brauchen ein Heim für unsere Hitler-Jugend. Wir können enteignen, Sie verstehen.“ Ja, und dann waren wir beim Notar. Und der erklärte uns, daß die Kaufsumme von 300.000 Reichsmark auf ein Sperrkonto käme, aber daß meine Eltern das Recht hätten, monatlich 100 Mark zu beheben. Ich habe dem alten Nußbaum nicht Adieu gesagt. Man verabschiedet sich nicht von Bäumen. Ich bin aus dem Haus, das mein Urgroßvater gebaut hatte, weggegangen, so wie ich aus Wien weggegangen bin: trockenen Auges und mit einem Herzen, hart von Haß und Bitterkeit. Die anderen Kinder? Gaskammern von Auschwitz... auf der Flucht erschossen... im Konzentrationslager verhungert... einer Soldat in amerikanischer, einer in englischer, einer in französischer Uniform. Andere, wie ich, in der Fremde. Um mein Fenster rankt Wein, Rosmarin und Thymian wachsen neben dem Haus, Licht rinnt zwischen den silbrigen Blättern der Olivenbäume. Aber ich habe Heimweh nach dem alten Nußbaum. Ich weiß, daß diese fremde Landschaft sehr schön ist und ich weiß, daß die Nazis meine Mutter ermordet haben und daß ich die mir liebsten Menschen niemals wiedersehen werde. Und ich habe Heimweh nach einem Baum... Die Tochter der alten Hausbesorgerin, die irgendwo anders in Wien lebt - sie wurde zugleich mit uns verjagt — hat mir geschrieben. ‚‚Unser Haus“ schreibt sie, denn es war immer „unser Haus‘ ebenso für sie wie für mich — ,,ist jetzt amerikanischer Besitz“. Ich muß gestehen, als ich das las, bin ich ein bißl wild geworden. Ja, sind wir denn im Wald? Wenn ein Dieb mich bestiehlt und ein Polizist verhaftet den Dieb und nimmt ihm die gestohlene Sache weg — wird der Polizist damit Besitzer? Vielleicht... Man kann nichts mehr so genau wissen, heutzutag. Es ist so schrecklich viel Unrecht geschehen in der Welt. Kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger noch an?