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den und verstand es, die Verhandlungen so lange hinauszuschieben, bis sie sich durch die Ereignisse erübrigten. Brunngraber ist jedenfalls unter diesen so zwielichtigen Bedingungen zu einem der Begründer des deutschen Sachbuchs geworden, eines Genres, das sich in den USA seit den zwanziger Jahren, seit de Kruif, großer Beliebtheit erfreute. Deutsche Sachbuchautoren, die nach dem Krieg auftraten, sind ohne den Einfluß Brunngrabers gar nicht denkbar. Ab 1945 wurde es für Brunngraber zunächst schwierig. War „Karl und das 20. Jahrhundert“ von den Nazi als ‚‚marxistisch, defaitistisch und pazifistisch“ verboten worden, so wurde es nun von den Alliierten als „‚faschistisch und militaristisch“ eingestuft. Offenbar hatte es kein Zensor auch nur angeblättert. Daß ‚‚Opiumkrieg‘“ mit seiner vehementen Anklage gegen England verboten wurde, versteht sich von selbst. Nach dem Krieg war Brunngraber wieder der SPÖ beigetreten und erlebte es noch, daß ihn die Stadt Wien 1950 mit ihrem Literaturpreis auszeichnete. Aus allem, was Brunngraber dann noch schrieb — und das war nicht wenig, wir können darauf nicht mehr eingehen -, spricht tiefe persönliche und politische Resignation. Als er 1960 starb, war er, nach allem, was man darüber hört, ein seelisch gebrochener Mann. Ohne NS-Anhänger gewesen zu sein, war er in Teufels Küche geraten. Fragt man, wie ich es immer wieder getan habe, unter denen, die im Lande geblieben waren, herum, wieso denn niemand — weiter publizierend oder nicht — auf den Gedanken verfallen war, sich zum Chronisten seiner Zeit zu machen, um diese der Nachwelt aufzubewahren, bekam ich meist zur Antwort, das sei zu gefährlich, der Druck zu stark gewesen. Unter noch stärkerem Druck, in der absoluten Gewißheit des unentrinnbaren Todes, ist das offenbar — anderswo — möglich gewesen. Der jüdisch-polnische Arbeiterführer Emmanuel Ringelblum hat die Geschehnisse des Warschauer Ghettoaufstandes Tag für Tag mitgeschrieben. Er konnte seine Aufzeichnungen auch noch vergraben, ehe er gleich allen anderen hingemordet wurde. Viele Jahre später hat man diese Aufzeichnungen entdeckt, sie wurden publiziert und in viele Sprachen übersetzt. Wir besitzen also eine genaue Schilderung des Unterganges des Warschauer Ghettos (abgesehen von dem Bericht des die Vernichtung kommandierenden NS-Führers Jürgen Stroop), nicht aber, was doch wohl leichter gewesen wäre, eine vom Alltag des Dritten Reiches. Erstdruck in: Frankfurter Hefte 35 (1980), H. 11, 67-70. Elisabeth Freundlich Die Vernunft der Täter Ein aufwendiges Symposion — es dauerte eine Woche, vom 19. bis 23. Oktober [1987]. Zu den Mitveranstaltern gehörten viele Institutionen. Unter den leitenden Personen die Zeithistorikerin Erika Weinzierl, zur Planung hatte man Friedrich Stadler geholt, der sich von dem Titel „‚Die vertriebene Vernunft — Emigration österreichischer Wissenschaft‘ nicht abbringen ließ. Schon bei den Vorbereitungen Differenzen. Mit welchen Instanzen man den Titel besprochen hatte, ist mir unbekannt. Ich jedenfalls machte sofort gegen diesen geltend, daß er zu verwaschen, absichtlich verwaschen sei, und darüber hinaus Assoziationen zu „‚Vertriebenenverbänden“ erwecke — was offenbar niemanden gestört habe. Mag auch sein, daß den geladenen Ex-Osterreichern die Unangemessenheit des Titels nicht weiter aufgefallen war, da diese „‚Interessenverbände“ niemals im Mittelpunkt ihrer Interessen gestanden hatten. aber was mit den in Österreich lebenden Teilnehmern? Wenn die nicht spüren, wie unangemessen es ist, den bereits besetzten Ausdruck für die Jahre zuvor aus Österreich Verjagten zu verwenden, dann sollte man sie in eine politische Klippschule schicken. Fragt sich nur, wo gibt es eine solche? Bei den politischen Parteien offenbar nicht. Wie auch immer, ein solcher Kongreß ist ohne politische Stellungnahmen nicht möglich, aber die wollte man eben — das war ganz deutlich - „‚tunlichst‘“ vermeiden. Man blieb also bei dem alten Titel, obwohl es sich ja gar nicht um vertriebene oder Rundfunkstationen und als Übersetzerin (u.a. der Theaterstücke des heute angesehenen Dramatikers Sean O’Casey und des „Kultbuchs“ ‚Night Song“ von John A. Williams) soll hier nur noch das Werk erwähnt werden, das ihr selbst sehr wichtig ist: es ist Ergebnis ihrer Arbeit als Berichterstatterin von NS-Prozessen und trägt den Titel ‚‚Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“. Ein kaum erträgliches Buch, das den Diskussionen, ob nach Auschwitz ein Gedicht noch statthaft sei, sprachlich Rechnung trägt und in seiner Nüchternheit nichts anderes darstellt als die systematische Ausrottung der jüdischen Bevölkerung einer Stadt und — in diesem Fall — mithin der Stadt. Natiirlich ist es 1986 erschienen, in dem Jahr, in dem Elisabeth Freundlich mit dem Professortitel ausgezeichnet wurde. Auf die Frage: — ,,Und wie fiihlen Sie sich als Antifaschistin in Europa? Sind Sie gern zurückgekommen?“ — antwortete Elisabeth Freundlich: — „Ich hab’ mir nie etwas Anderes vorgestellt. Aber ich mu8 bekennen, wenn ich gewußt hätte, wie schwierig es werden wird durch den Kalten Krieg, die Ablehnung und all das ... Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich den Mut nicht aufgebracht. Aber rückblickend bin ich froh, daß ich es getan habe, denn ich bin die geblieben, als die ich angetreten bin: eine politisch bewußte, aber unabhängige Schriftstellerin.“ Susanne Alge Doris Ingrisch Frauen im Exil: persönliche und historische Notizen über einen Zugang Seit ich über intellektuelle Frauen im Exil arbeite, habe ich viel gelernt. Wie bin ich eigentlich dazu gekommen, mich auf eine Reise zu begeben, um intellektuelle Frauen aufzusuchen, die im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung Österreich verlassen mußten? ‚„‚Wissenschaftsgeschichten aus Lebensgeschichten“ lautet der Titel eines Aufsatzes tiber (auto)biographische Zeugnisse von Wissenschaftern (sehr wenige Wissenschaftlerinnen haben Ahnliches hinterlassen) von Martin Kohli. Wenn ich die in dem Titel enthaltene Aussage ein wenig umformuliere und meinem Thema entsprechend variiere, so erweitert sich die Frage auf die Ebene des Zeitpunkts der Forschung tiber Frauen im Exil. Wessen Lebensgeschichten erzählen etwas über die Tradition der intellektuellen Kultur in Österreich? Ihre? Meine? Unsere? 19.