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.. Das Verschwimmen der starren Ebenen zwischen Beforschten und Forschenden (was nicht vereinnahmen heißen darf) dokumentiert eine Möglichkeit, Geschichte zu verstehen. Interessiert an den Verhinderungen und Möglichkeiten von Frauen in der Wissenschaft, wollte ich zuerst etwas über die an der Universität Wien habilitierten Frauen wissen. Nicht nur ihre akademische Biographie als Ausdruck weiblicher beruflicher Entwicklungschancen schien mir wert, betrachtet zu werden, vielmehr sie selbst in ihren persönlichen Lebensentwürfen, Wahrnehmungen und Haltungen wollte ich kennenlernen. Voraussetzung dafür war ein Gespräch. In Frage kamen Frauen, die sich in den Jahren zwischen 1936 und 1960 habilitiert hatten. Was zunächst als forschungstechnischer Umstand einer Oral historyUntersuchung erschien, stellte sich bei genauerem Hinsehen als Einschnitt dar, hinter dem eine „ganz andere Geschichte“ verborgen lag. Elise Richter, Romanistin, wurde als erste Frau im Jahre 1907 als Dozentin an der Universität Wien zugelassen. Ihr folgte im Jahr 1921, also 14 Jahre später, Christine Touallion, Germanistin, im Jahr 1923 die Psychologin Charlotte Bühler. Elise Richter kam im Jahr 1943 in Theresienstadt ums Leben. Charlotte Bühler, wie Elise Richter jüdischer Herkunft, befand sich bei Hitlers Einmarsch gerade in Norwegen, kehrte nicht mehr nach Wien zurück und reiste 1940 in die USA, wo sich ihr Mann Karl Bühler bereits befand. Die meisten der zehn weiteren bis 1938 habilitierten Frauen sahen sich gezwungen, Universität und Land zu verlassen. Über Assistentinnen und Studentinnen liegen keine genaueren Zahlen vor. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, daß sich viele von ihnen einer ähnlichen Situation gegenüber sahen. Es gab seit der Zulassung zum Studium (1897 an der geisteswissenschaftlichen, 1900 an der medizinischen Fakultät) mehr Studentinnen mit mosaischem Bekenntnis, als ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. An der philosophischen und an der juridischen Fakultät betrug ihr Anteil knapp über die Hälfte, im medizinischen Bereich stellten sie sogar rund 70 Prozent der Studentinnen. Nur wenige der damals schon graduierten Frauen kehrten nach 1945 zurück was auch für die ‚‚Töchtergeneration“, d.h. die Frauen, die als Jugendliche oder Kinder ins Exil gehen mußten, zutreffend ist. Ausgeschlossen blieben sie aber nicht nur von den Universitäten, sondern auch von den diversen außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Österreich, in denen in der Zwi20 „verjagte“ Vernunft — auch nicht ausschließlich um verjagte Wissenschafter — gehandelt hatte, sondern um die Verjagung von Menschen aus Fleisch und Blut. Gleichviel, es gab gut klappende ,,panel discussions“ (warum so amerikanisch?), Workshops, Fallstudien, Zeitzeugen. Mich hatte man unter die Literaturwissenschafter eingereiht. Aber diese Klassifizierung, die Tatsache, daß ich vor einem halben Jahrhundert ein Doktorat der Germanistik in Wien gemacht hatte, ist für die Charakterisierung meiner Produktion der letzten 40 Jahre ganz unerheblich. Es ist typisch für die akademische Wertskala, daß der Literaturwissenschafter als höher gilt denn derjenige, der die Literatur herstellt. Mich eine ,,Germanistin“ zu nennen, ist nicht sinnvoller als den Mond einen Astronomen zu nennen. Natürlich gab es vorzügliche Einzelreferate, wurde manch Verschollener ans Licht geholt. So etwa David Josef Bach, Musikkritiker der Arbeiter-Zeitung, Begründer der Arbeiter-Symphoniekonzerte, der seinerzeit Anton von Webern als Dirigenten geholt hatte, was damals eine kühne Tat gewesen war (Henriette Kotlan-Werner). Oder was Paul Zilsel, in den USA lehrender Physiker, über seinen Vater Edgar Zilsel vortrug, einen Philosophen, der seinerzeit in Wien die Volksbildung mitgeprägt hatte, aber in der Emigration nirgends hatte ankommen können und Selbstmord beging. Es gab ein paar solcher verdienstvoller Referate, aber eben nur ein paar. Welche Funktion, respektive Nichtfunktion, innerhalb der kulturpolitischen Situation Österreichs dieses aufwendige Symposion hatte, kann nur derjenige beurteilen, der sich in die Zeit unmittelbar nach dem Krieg versetzt. Keiner wollte damals etwas anderes als rasch aus der Trümmerwelt heraus, als ein geordnetes Staatswesen aufbauen, das Familienleben wieder in Ordnung bringen. Den drängenden Fragen ihrer Kinder, wie denn das damals alles so gekommen sei, wollten die Eltern nicht Rede stehen müssen. Auch in der Schule wollten ihnen die Lehrer nichts erklären, was sich bald bitter rächen sollte. Die Wörter „‚Emigranten“, „Juden“ oder „jüdisch“ hat man von Anfang an geflissentlich vermieden (außer natürlich in bewußt noch nazistischen oder neonazistischen Kreisen). Auch dieser Kongreß ist in dieser Tradition der Vermeidung gestanden. Die Tatsache, daß sechs Millionen Juden hingemordet worden sind, hätte verdient und verlangt, im Titel genannt zu werden. Nur leise, Herrschaften, nur leise; was duckmäuserisch ist, ist auch präsentabel. Jedermann weiß, daß niemand die Emigranten zurückwollte, weder die Bevölkerung noch die politischen Parteien, jeder kämpfte erbittert um seine Posten. Der einzige, der einen Aufruf an alle Emigranten erließ, nicht etwa nur an einzelne Fachleute, zurückzukehren, man brauche sie zum Wiederaufbau der Stadt, war Viktor Matejka, damals Stadtrat für Kultur und Volksbildung in der ersten provisorischen Nachkriegsrepublik. Sein flammender Appell an alle Emigranten, zurückzukommen, wurde von uns in New York in der Austro American Tribune veröffentlicht, von englischen Zeitungen kommentiert, von der New York Times abgedruckt, und nahm von dort seinen Weg in zahlreiche andere Blätter. Sonst geschah nichts. Niemand wollte uns zurückhaben. Das ungeheure Potential an Fachkräften ließ man sich einfach entgehen. Zu seinem 100. Geburtstag hatman Erwin Schrödinger zwar durch ein Symposion geehrt, auch unseren Tausend-Schilling-Schein mit seinem Bild versehen; ihn hat man zwar zurückgeholt, aber auch das geschah nur halbherzig. Auch das ist bloßer Schein geblieben, denn die Stadt Wien konnte einer Weltfigur wie Schrödinger typischerweise keine angemessene Wohnung verschaffen. Und als man das endlich doch zustande brachte, ist dem alten Mann nur noch wenig Zeit zur Forschung geblieben. Bei dieser allgemeinen Animosität gegen die Emigranten kann es nicht wunder nehmen, daß auch die Wörter „Emigrant‘“ und „Exil“ vermieden wurden. Viele fürchteten auch, daß etwaige Rückkehrer ihre alten Wohnungen würden wieder beziehen wollen. Und so ist es nur zu begreiflich, daß man diese Wörter lieber vermied. Wo immer ich kann, verweise ich auf ein charakteristisches Beispiel: 1980, also 35 Jahre nach Kriegsende, gab es im Belvedere eine an sich durchaus verdienstvolle Ausstellung, Titel: „Die uns verließen.“ ‚Die wir verstießen“ hätte es natürlich heißen müssen. Keinem der Museumsbeamten ist der unangemessene Titel aufgefallen, geschweige denn, daß einer gegen diesen protestiert hätte. In solchem Klima kann es nicht verwundern, daß österreichische und auch deutsche Verleger sich nicht gerade ermutigt fühlten, wissenschaftliche oder gar literarische Emigrationsautoren herauszubringen, außer ganz prominente, die noch aus der Vorkriegszeit bekannt waren.