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Wenn ich mich mit diesen ‚„Themen“ - ein schrecklicher akademischer Ausdruck — beschäftige, so wahrhaft nicht, weil ich mich als Germanistin (siehe oben) dafür interessierte, auch das Wort „Interesse“ ist hier ein gar nicht zu unterbietendes Understatement: Vielmehr beschäftige ich mich deshalb mit diesen Dokumenten der schlimmsten Epoche Österreichs, und diese hören nicht auf, mich zu beschäftigen, weil diese Zeit nicht, wie es offiziell-euphemistisch heißt, eine der „Vertreibung der Vernunft“ gewesen ist, sondern eine des systematischen Massenmordes, dem natürlich auch normale Menschen, Nichtwissenschafter, zum Opfer gefallen sind. Ich gedenke zum Schluß meiner Familie, von der nur zwei Mitglieder eines natürlichen Todes in ihren Betten haben sterben dürfen. Wessen Vernunft war hier ‚vertrieben‘? Die der Vertreibenden und die der Mörder. Erstdruck in : FORVM (Wien), März/April 1988, S. 11. Jarmila Weißenböck Hommage an Hilde Holger Mein erstes Zusammentreffen mit Hilde Holger fand geistig im Sommer 1979 statt. Damals stieß ich bei der Vorbereitung der Ausstellung Tanz 20. Jhdt. in Wien im Zusammenhang mit Gertrud Bodenwieser auch auf ihren Namen. Dem Österreichischen TheaterMuseum stand zu dieser Zeit erstmals das Material der späteren Hilverding-Stiftung zur Verfügung — diese Sammlung von Tanzdokumenten aus aller Welt, die einen Einblick in die damals noch ziemlich unbekannten Welten der Wiener Tanzszene der Zwischenkriegszeit, der Vielfalt des expressionistischen Tanzes und seiner Diaspora gibt. Persönlich habe ich sie dann im November desselben Jahres bei der Ausstellungseröffnung kennengelernt. Viele der emigrierten Tänzerinnen kamen das erste Mal seit Kriegsende wieder nach Wien. Es gab ein Wiedersehen zwischen Australien, Neuseeland, Südamerika und Europa. Hilde Holger war mit dabei. Ein Jahr später kam es wieder zu einem Treffen, diesmal in London. Eine eigene Fassung unserer Tanzausstellung für die Royal Festival Hall wurde hier gezeigt. Nun lernte ich Hilde Holgers Haus mit Studio in Camden Town kennen, wo sie seit 1951 lebt und arbeitet. Eine ungeahnte Welt eröffnete sich mir. Mit größter Selbstverständlichkeit mischten sich hier typisch Wienerisches — Sprache und Klangfarbe, Erinnerungsstücke -, englische Lebensweise, Reminiszenz auf Fernöstliches. Dazwischen ihre Schüler und Schülerinnen. Eine eigene Welt zwischen dem Studio im Souterrain und dem ersten Stock mit dem Wohn-, Arbeits- und Empfangszimmer in einem. Überall an den Wänden, auf dem Klavier, auf Tischchen und Stühlen, auf dem Fußboden finden sich Fotos mit Autogrammen und Widmungen, Zeichnungen, Zeitschriften, Bücher und Bilder, Briefe und Zeitungsausschnitte in scheinbar wahlloser Ordnung. Alles Erinnerungen, auch an das Wien vor 1938, in dem Hilde Holger tief verwurzelt ist und das eine Basis für ihr gesamtes Schaffen bildet. Die am 18. Oktober 1905 in Wien in einer Zeit des künstlerischen Aufbruchs (Gründung der Sezession, Klimt und Freud, Kokoschka, Schiele, Alban Berg und Arnold Schönberg) Geborene hatte seit ihrer frühen Kindheit nur den einzigen Wunsch, Tänzerin zu werden. Ein Wunsch, den ihre Mutter unterstützte. Frühe Theaterbesuche förderten die Freude an der spielerischen Verkleidung — der künstlerischen Verwandlung. Als Sechsjährige nimmt sie am Unterricht im Gesellschaftstanz für ihre Schwester teil, 1919 finden wir sie als Schülerin an der Staatsakademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien. Dort ist Gertrud Bodenwieser seit 1921 ihre Lehrerin und übernimmt 1924 die Leitung der Abteilung für künstlerischen Tanz. Aus den besten ihrer Schülerinnen stellt sie eine eigene Truppe zusammen. Gerne erinnert sich Hilde Holger an Auftritte in Bodenwiesers berühmtem ‚Dämon Maschine“, in ihren Choreographien für das Sprechtheater „Franziska“ von Wedekind, mit einem Gastspiel in Berlin, und in Klabunds ‚„‚Kreidekreis“. Mit der Truppe tritt Hilde Holger auch in Max Reinhardts „Das Mirakel“ auf und, in einer Choreographie von Kurt Joos, in Händels Oratorium „Herakles“ im Wiener Konzerthaus. Ihre begabten Schülerinnen zieht Bodenwieser auch als Assistentinnen heran und läßt sie in eigenen Soloabenden ihren persönlichen Stil finden. Am 21. November 1923 schenkriegszeit erstaunlich viele intellektuelle Frauen vertreten waren (z.B. Psychoanalyse, Individualpsychologie, Psychologie). So fand sich Charlotte Bühlers Professur von einer ihrer Schülerinnen besetzt. Zu den institutionellen Behinderungen kamen emotionale Belastungem. Bühler schrieb 1972: “Von Wien konnte ich, nachdem die Nazis uns daraus vertrieben hatten, für lange Zeit nur mit Tränen sprechen.“ Diese Zäsur in der Geschichte intellektueller Frauen im akademischen Bereich in Österreich ist bisher weitgehend verdrängt worden. Als ich über die ersten habilitierten Frauen und ordentlichen Professorinnen schrieb, zeigte sich mir noch einmal deutlich, daß statt der Ermordeten und Exilierten vielmehr etliche derjenigen, die in der NS-Zeit die akademische Karriere begonnen hatten, sie auch nach 1945 in höheren Positionen fortsetzen konnten. Welche Erinnerungen aber ist von den Frauen geblieben, die vertrieben wurden? Was ist mit ihnen geschehen? Was ist aus ihnen geworden? Mit dieser Frage hat die Forschung über Frauen im Exil für mich begonnen. Die meisten ihrer Spuren waren vergraben und verwischt. ,,Der eigenen Geschichte ins Angesicht zu blicken, ist eine Pflicht sowohl für Nationen, als auch für Individuen“ ‚ formuliert es Jacques Le Goff. Für mich wurde das Bedürfnis, Antworten auf diese Frage zu finden, eine Reise in die Möglichkeiten von Frauenleben und intellektueller Kultur. Sie zu reflektieren, verbindet Vergangenheit und Zukunft. Zitierte Literatur: Bühler, Ch. in Pongratz, L./Traxel, W./Wehner, E. (Hg.): Psychologie in Selbstdarstellungen, Bern 1972, 24. Heindl, W./Tichy, M. (1990): „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück...“ Frauen an der Universität Wien (ab 1897), Wien 1990. Ingrisch, D.: Wissenschaftlerinnen im Exil (unveröffentlichter Forschungsbericht), Wien 1995. Kohli, M. (1981): „‚Von uns selber schweigen wir.“ Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten, in: Lepenies, W.: Geschichte der Soziologie, Frankfurt a. M. 1981, Bd. 1, 428. Korortin, I. (1993): Charlotte Bühler, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.): Wir sind die ersten, die es wagen. Biographien deutschsprachiger Wissenschaftlerinnen, Forscherinnen, intelektueller Frauen, Wien 1993, 22. Le Goff, J.: Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1992, 7. Lind, A. (1961): Das Frauenstudium in Österreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 1961. Prost, E.: Emigration und Exil österreichischer Wissenschaftlerinnen, in: Stadler F. (Hg.): Vertriebenen Vernunft I. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940, Wien 1987, 444. 21.