OCR Output

22

ws

Richard Teschner: Hilde Holger,
Kohlezeichnung, 1920

hat Hilde Holger im Saal der Wiener Secession ihren ersten Soloabend,
am Klavier begleitet von Arthur Kleiner, mit Kostiimen nach Entwiirfen
der Bildhauerin Katherine Barjansky. Auf dem Programm stehen u.a.
Hilde Holgers eigene Choreographien ,,Le Martyre de Saint Sebastien“
zu Musik von Claude Debussy und ,,Die Forelle“ zu der Musik Franz
Schuberts. Später tritt sie auch gemeinsam mit Gisa Geert, ebenfalls einer
Bodenwieser-Tänzerin, auf. Erfolgreichen Auftritte führten sie u.a. nach
Prag, Paris, Budapest.

1926, noch als Mitglied der Bodenwieser-Truppe, eröffnet sie ihre
eigene Schule für Bewegungskunst, zunächst im Konzerthaus. Im Herbst
1928 übersiedelt die Neue Schule für Bewegungskunst ins Palais Neu¬
pauer-Breuner im 1. Bezirk, Singerstraße 16 (heute beherbergen diese
Räume die Wiener Dependence des Auktionshauses Sotheby’s). Aus
ihren SchiilerInnen bildet Hilde Holger ihre eigene Tanzgruppe und eine
Kindertanzgruppe.

In ihren Arbeiten war Hilde Holger immer in engem Kontakt mit der
avantgardistischen Wiener Kunstszene. Der Fotograph Antios, der die
bekannte Aktstudie von ihr schuf, zählte zu ihren Freunden, ebenso der
Karikaturist und Illustrator Benedikt F. Dolbin, der Maler Felix Albrecht
Harta, der Bildhauer Joseph Heu, von dem wir eine Portraitbüste Holgers
kennen. Sie verkehrte im Atelier des Allroundkünstlers und Puppen¬
spielers Richard Teschner, der sie auch zeichnete. Von Teschners Figu¬
ren, „dem schönsten und phantastischesten Puppentheater“, hat Hilde
Holger viel über die Bewegung, besonders der Hände, gelernt. Dem
Marionettentheater von Karl Fränkel war sie in anderer Weise verbun¬
den. Sie erzählt, daß sie ihr „„Martyrium des Hl. Sebastian“ einmal mit
seinen Marionetten als Hintergrund nur zu seiner Werkelbegleitung
getanzt hat - „Happening“ würde sie das heute nennen.

Hilde Holgers Arbeiten sind wie viele der expressionistischen Cho¬
reographien abhanden gekommen, nur die Titel sind uns noch bekannt:
„Mechanisches Ballett‘, unter dem Einfluß von Oskar Schlemmer ent¬
standen, „Die Orchidee“, „Masken“, „Engel der Verkündigung“, ‚‚Ja¬
vanische Impressionen“, „Farbe“ (ohne Musik) und „Zeitvisionen“,
beide im Rahmen der Ausstellung „‚Der Tanz“ 1933 erstmals präsentiert.
„Walzer“ von Weber, „Marsch“ von Prokofjew, ,,Sarrabande und
Bourée“ und ,,Prélude“ von Bach. Nur weniges wurde von anderen
später wieder aufgenommen, so von Liz Agiss ,,Die Forelle“, die Mut¬
ters Weihnachtskarpfen in der Badewanne zum Vorbild hat, oder der
,,frauermarsch fiir einen Kanarienvogel von Franca Schuller und
schlieBlich ,,Ikarus“ von Monika Koch und Thomas Kempe.

1938. Hilde Holger ist Jiidin, ihre Kunst gilt als ,,entartet und wird
mit Aufführungsverbot belegt. Heimlich unterrichtet sie im Untergrund
weiter, gleichzeitig bereitet sie ihre Emigration vor. Sie absolviert einen
Kurs für Heilmassage, um sich durchbringen zu können. Durch Karl
Petrasch, einen befreundeten Journalisten, erhält sie ein Visum nach
Bombay. Am 1. Juni 1939 verläßt sie Wien. Sie sieht ihre Mutter und
Schwester zum letzten Mal. Ihre ganze Familie, 14 Personen, kommt in
Konzentrationslagern um.

Paris, Marseille, am 21. Juni 1939 Bombay. Anfangs wohnt sie bei
einer indischen Arztfamilie. Bald schon tritt sie im internationalen Hotel
Taj Mahal auf, wo sonst nur KabarettänzerInnen auftreten. Ihr Programm
mit einem Wiener Walzer und u.a. der ,,Marseillaise“ hat Erfolg bei den
englischen und französischen Zuschauern. Größer ist die kulturelle Kluft
zum indischen Publikum. Ihren Lebensunterhalt verdient sie zunächst
durch Heilmassage, später erhält sie an einer Schule die Stelle als
Lehrerin für zeitgenössischen Tanz. Sie hat eine Existenzgrundlage und
kann ihre künstlerische Arbeit wieder aufnehmen. 1940 heiratet sie Dr.
Boman-Behram, der aus einer Parsen-Familie stammt und sie in ihrer
Kunst unterstützt. Nun kann sic die Vielfalt an Farben, Furmen und
Rhythmen, die Eigenart des fremden Landes auf sich und ihre Kunst
wirken lassen, sie verarbeiten, um sie später dann, nach ihrer zweiten
Emigration nach England, künstlerisch umzusetzen.