OCR
Noten. „Das?“ Er sah das Kind an. Dabei senkte er seinen Kopf so tief, daß seine Augäpfel knapp unter Oberlidern und Brauen rollten und unten ihr Weiß heraustrat. „Das?! - Ist viel zu schwer für dich.“ ..Ich habe es geübt“, sagte das Kind. „Deine Hände sind noch viel zu klein“, sagte der Lehrer. „Ich habe sie die ganze Woche gedehnt — und ich will das spielen!“ Sie stampfte mit dem Fuß. „Eine Lehrerin hat es vorige Woche gespielt, beim Trauerfest für die gemordeten Soldaten. — Ich kann mir soviel dabei vorstellen.“ Das Kind sagte ,,gemordete“, nicht ,,gefallene“ Soldaten. Jünger wunderte sich. Mona saß schon am Klavier. Sie begann mühsam die viertönigen Akkorde mit der rechten Hand, die tiefen Oktaven mit der Linken anzuschlagen. Jünger merkte, daß es sinnlos war, das Kind abzuhalten. Resigniert blieb er in seiner Bucht, schmiegte seinen knochigen Rücken in sie hinein, so gut es ging, gewillt den Rest der Stunde so zu verbringen und das, was vom Klavier kam, von sich abgleiten zu lassen. Sogar den Gedanken ‚‚armer Beethoven“ wischte er weg. Die Akkorde wurden weiter angeschlagen; im Takt, wie Jünger feststellen mußte. Die Noten waren richtig, obwohl das Kind natürlich nicht immer alle Tasten zusammen greifen konnte. Ihr Spiel war eckig wie ihre Geh- und Sprechweise. Mona begann Klänge in ihre einzelnen Töne zu zerlegen, begleitete sie dann, indem sie zwei Finger auf nebeneinander liegende Tasten fallen ließ. Leicht, lustig spitz war ihr Spiel. Dann wurde es lauter, wilder, ärgerlich und platzte in einem unerwarteten Donnerschlag bizarr zusammengesetzter Töne, so daß Hermann Jünger sich überrascht zu dem Kind drehte. Ihr Gesicht war gerötet: Sie schien ihn und den Unterricht vergessen zu haben. Ihre Bewegungen waren weich, hatten das Knabenhafte zurückgelassen, wie sie in die Tasten griff. Was er hier hörte, war nicht wie Beethoven es erdacht hatte. Das Mädchen Mona spielte ihr Spiel mit den Noten des Größten. Ein Sakrileg — eigentlich. Und doch: Hermann Jiinger fand sich zuhörend. Er verließ seine Bucht, setzte sich neben das Mädchen, sah ihren Kinderhänden zu, merkte das erste Mal, daß ihre Finger län ger waren als bei anderen Mädchen ihres Alters. Sie lächelte während sie spielte. Ihr kleines glühendes Gesicht verschwamm mit den Tönen, deren unvollkommene technische Ausführung er vergaß über dieses Unerwartete, in das er hineinzulauschen begann, das er tiefer erforschen wollte. Er legte seinen Arm auf die Lehne von Monas Klaviersessel, merkte erst, daß er ihre Schulter berührt hatte, als sie den ungewohnten Kontakt mit einer winzigen Schulterbewegung abstreifte. Ohne zu bemerken, daß es die Hand des Lehrers gewesen war, spielte sie weiter, gefangen von der Konzentration, die vielen Noten nach ihrer Stimmung tanzen zu lassen. Der Lehrer neigte den Kopf, schloß die Augen, um nur zu hören, sank in sich zusammen, stützte nach einer Weile, um seine schmerzende Wirbelsäule zu entlasten, seinen linken Arm auf Monas Sessellehne. Wieder spürte Mona Ungewohntes an ihrer Schulter. Diesmal wußte sie, daß es die Hand des Lehrers war und schüttelte ihn ab. „Ich kann so nicht spielen“, sagte sie, ohne zu unterbrechen, ,,nehmen Sie ihren Arm weg.“ Monas linke Hand griff über die Rechte. Sie verlegte die Oktaven in die hohen Lagen, sah den Lehrer einen Moment an, triumphierend, denn das hatten sie noch nicht durchgenommen. Jünger empfing ihren Blick — eine Bruchsekunde lang -, einen Blick aus zwei tief-durchsichtigen Meerteichen, mit helldunkel flimmernden Wirbeln, während er weiter Rhythmus und Tonzusammensetzungen verfolgte. „Das klingt interessant“, sagte er nach einer Weile. „Vielleicht kannst du es doch spielen. Aber so wie Beethoven es geschrieben hat. Wiederhole von Anfang.“ Mona begann mit den Anfangsakkorden. „Noch exakter im Rhythmus“, sagte Jünger. „So muß das klingen.“ Er griff mit der linken Hand in die Baßtöne, streifte den Körper des Mädchens, fühlte ihre Wärme, fühlte sie zurückweichen. „Höre genau zu“, sagte er. „Lang - lang — kurz - lang. Versuche selbst.“ Sie versuchte es. Der Rhythmus gelang. Sie arbeiteten das Stück durch. „Jetzt möchte ich wieder etwas dazu erfinden“, sagte Mona. Ein Zustimmung fordernder Blick aus den grünen Seen streifte Jüngers und sie begann, ohne die Antwort des Lehrers abzuwarten, zu ‚„‚erfinden“. Jünger fühlte eine gewisse Neugierde. Un willkürlich schloß er die Augen, sank in sich zusammen. Er hörte und wunderte sich. Sein linker Daumen rieb langsam die Innenseite seines linken Zeigefingers. Er würde sich spezielle Übungen ausdenken für dieses Stück. Nein. Nicht nur für dieses Stück natürlich. Übungen besonderer Art für dieses Mädchen, für die Größe ihrer Hände. Er würde sie zu seiner Jüngerin — Schülerin — korrigierte er sich, machen. Sein Rücken schmerzte. Er richtete sich auf, dehnte Schultern und Arme weit, kam wieder in Berührung mit der Mädchenschulter. Das Spiel brach ab. Das Mädchen Mona drehte sich zu Jünger, sah ihm ins Gesicht, sah flackernde Augen in schrägen Höhlen, darüber farblose Haarbüschel borstig in die Luft stechen, dazwischen breit, steil aufsteigend die feucht glänzende Stirn. Lang war das scharfe Nasenbein, mit dünner, äderchendurchzogener Haut bespannt. Unten teilte es sich, beinahe ohne Nasenflügel, in zwei, schwarze, lange Löcher. Mona sah dieses Gesicht und spürte es — wie einen Klumpen — im Magen. Dazu tauchten Jüngers Worte auf: ,,Gedirme hängen an Telegraphendrähten.“ Widerliche Worte. Wie sein Gesicht. Mona wußte nicht genau, was ‚‚Gedärme“ waren. Nur, daß sie mit dem Unterkörper zu tun hatten, den man nicht berühren sollte, das wußte sie. Ihre Augenbrauen zogen sich über der kleinen Nase zusammen. „Ich sagte schon, daß Ihr Arm mich stört. Ich kann so nicht spielen. Das nächste Mal — schlage ich Sie auf die Finger.‘ Sie empfand ihre Worte als faire Warnung. Die Helden in den Büchern, die sie heimlich las, warnten ihre Gegner auch immer zuerst. Jünger unterdrückte ein Lachen, nahm seinen Arm zu sich. „Wiederhole von hier“ , sagte er und zeigte mit seinem langen Zeigefinger auf den betreffenden Takt. Das Mädchen Mona folgte seiner Hand. Sie war mit garstigen Borsten bedeckt und überhaupt die knochigste, längste Hand, die sie jemals gesehen hatte. „Nun“, sagte Jünger, ‚‚warum spielst du nicht?“ Mona begann wieder zu spielen, begann wieder abzuschweifen in ihre Phantasieklänge. Der Lehrer wollte sie zurechtweisen, unterließ aber die Ermahnung, ohne genau zu wissen, warum. Wieder zerlegte Mona Akkorde, mischte zuerst kleine, dann ungezähmtere, schließlich wieder bizarre Dissonanzen ein, die scine Aufmerksamkeit forderten, ihn nach und nach gefangen nahmen. Er tauchte wieder in seine Hörstellung ein. Sie webte eine Vielfalt von Stimmungen in 27