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einen großen, flachen Kieselstein und drückte ihn an ihre Wange. Er war kühl und glatt und tröstend. Monas Gedanken liefen die Zeit zurück, in den dunklen Hausflur eines fremden Hauses: Ihre Hand liegt in seiner, die rauh ist und sehr warm. Er legt den großen Kieselstein in ihre Hand, schließt behutsam ihre Finger darum. „Ich habe nichts anderes“ , sagt seine Stimme. „Hoffentlich magst du Kieselsteine.“ „Oh ja, sehr!“ hört Mona sich sagen. ,,Oh ja, sehr - sehr.“ Kühl der Stein an brennender Wange. — Damals wird wieder heute: Die Ballettstunde ist zu Ende. Sie haben das Märchen vom gelben Schmetterling geprobt, der in Wirklichkeit eine vom schwarzen Zauberer verwünschte Prinzessin ist. Monas Gedanken sind noch bei den tanzenden Schmetterlingen, während sie aus dem Haustor ins Freie tritt. Der helle Abendhimmel blendet, eine einzige, weitausgespannte Lichtschale. Häuser und Bäume stehen abendlich dunkelblau dagegen: Eine herrlich beleuchtete Bühne, in die Mona hineintanzen möchte. Der Wind bläst kleine Schneewirbel durch die klare Luft und wiegt leise Fetzen von Marschmusik von irgendwo her. Die Musik lockt. Mona geht sie suchen. In einer Seitenstraße stehen dunkle, offene Autobusse, in denen Figuren sitzen, wie große Zinnsoldaten, jeder mit einem Helm und einem schräg an die Schulter gelehnten Stock. Die Musik kommt von der Hauptstraße, die wie ein Ring um die innere Stadt läuft. Auf der Fahrbahn gehen große Männer und Frauen. Manche tragen Kinder auf den Schultern. Mona ist zu klein, um ihre Gesichter zu sehen. Es bebt von stampfenden Füßen, Trompeten und Trommeln. Jeder tiefe Trommelschlag trifft Monas Brustbein und schickt erregende Vibrationen bis in die Beine. Der Rhythmus übernimmt ihre Füße. Sie geht am äußersten Straßenrand, versucht Schritt zu halten mit den Großen. Aber sie ziehen an ihr vorbei, weil ihre Schritte zu klein sind. Plötzlich sieht sie den Vati. Sein Haar- und Bartkranz fängt die letzten rotgoldenen Abendstrahlen. „Vati' Nimm mich mit, Vati!“ Sie läuft ihm nach, faßt ihn am Ärmel. Der Vati dreht sich um — aber er ist nicht der Vati. Mona stolpert. Eine kräftige Hand fängt sie auf. „Suchst du deinen Vater?“ Eine tiefe Stimme fragt aus großem Bart. „Komm! Hier oben siehst du besser.“ Es ist Lachen in der tiefen Stimme. Sein Arm hebt sie, wie einen leichten Ball, setzt sie rittlings auf mächtige Schultern. Er hält ihre Füße mit seinen großen, wärmenden Händen, dort, wo ihre Schuhe aufhören. „Halt dich gut fest an mir!“ Seine Stimme, in der wieder dieses tiefe Lachen ist, übertönt die schmetternde Klangkulisse. Mona sitzt hoch über den Köpfen, mitten im Zug der Marschierenden, der weder Anfang noch Ende hat. Trompetenmessing blitzt. Die roten Straßenbahnen stehen still, ihre Fenster hell erleuchtet. Vor Mona geht eine Frau mit gebliimtem Kopftuch. Sie winkt. Viele Leute winken, schwenken Papierfähnchen. Mona hätte gerne eine kleine Fahne. Die Musik macht Pause. Ein Chor von Stimmen beginnt zugleich zu sprechen, viel lauter als in der Kirche, wenn die Gemeinde dem Pfarrer antwortet. Exakt im Schrittrhythmus rufen sie einen Reim, der die Luft erfüllt und von den Häusern zurückschallt. Es sind nur zwei Zeilen. Eine endet mit ,,Brot“. Die Musik intoniert ein Lied. Alle singen mit. Mona auch, ohne Worte. Sie reitet auf ihrem Mensch-Pferd, eine Hand in seiner rotgoldenen Mähne, winkt mit der anderen. Ein ganz neues aufregendes Gefühl, eine Art Schwebezustand, hier mit den Vielen, gemeinsam auf der Straße gehen und singen! Bunte Papierblätter schaukeln herunter von überall, Hände strecken sich danach. Polizisten tauchen auf, reichen einander die Hände, als wollten sie ein Spiel spielen. Sie drängen die neugierigen Gaffer auf den Bürgersteigen zurück. In den beleuchteten Fenstern der großen Häuser werden die Vorhänge zugezogen. Dann geschieht alles auf einmal. Mona kann sich nie genau erinnern: Ein greller Knall sticht in Augen und Ohren — die Frau mit dem geblümten Kopftuch stürzt — Mona wird zu Boden gedrückt — der Mann mit dem Bart liegt schwer auf ihr — sie bekommt keine Luft, versucht ihn wegzudrücken. „‚ Tut dir was weh?“ Er stützt seinen mächtigen Körper auf einen Arm, so daß er über Mona bleibt, ohne sie zu drücken. Mona will aufstehen. Der Mann drückt sie zurück. „Bleib’ still. Sie schießen.“ Er zieht den Kopf ein. Schreie: „„Schnell lauft, sie schießen! — Lauft! Sie schlagen alle zusammen! Lauft, solange ihr könnt!“ Pferde galoppieren heran. Ganz nahe. Menschen brüllen vor Schmerz. Der Mann über Mona zuckt zusammen. Zischend zieht er die Luft durch die Zähne. Mona drückt ihr Gesicht tief in seine Schulter, sein dichter Bar darüber. Die Frau mit dem Kopftuch stöhnt. „Sie ist verletzt“, flüstert Mona in den Bart. „Ich habe ein frisches Taschentuch.“ „Nicht — jetzt“, sagt er, kurze pfeifende Atemzüge zwischen den Worten, die keine Tiefe mehr haben. ,, Wenn - sie weg sind, ver - binden wir - sie.‘“ Mona bohrt ihren Kopf noch tiefer in den Mann. ,,Hab’ keine Angst, - ich beschiit - ze dich schon.‘ Seine Atemzüge werden ruhiger. Irgendwann kriecht eine bleierne Stille über die Straße. Der Bart hebt sich vorsichtig von Monas Gesicht. Der Mann reibt sich das Bein. Er steht mühsam auf. Mona stützt ihn: „Was hast du?“ „Ein kleiner Knüppelhieb.“ Sein Lachen gelingt nicht. Einige Leute liegen noch auf der Straße. Die Fenster der Straßenbahnen sind dunkel und blind. „Gib mir dein Taschentuch“, sagt der Mann. Er kniet neben der Frau. Mona bückt sich zu ihr. „Ist sie tot?“ „Nein, nur bewußtlos. — Knöpf ihr den Mantel auf.“ Monas Hände knöpfen schnell. Er drückt das Taschentuch in die Schulterwunde. „Das Taschentuch ist zu klein.“ „Nimm meinen Schal dazu.“ Mona reicht ihren weißen Schal. Gemeinsam verbinden sie die Frau. „Ich bringe die Frau weg von der Straße. Nimm ihre Tasche.“ Monahebt die Tasche auf. Ein Bündel bunter Blätter, wie sie durch die Luft geflogen sind, rutscht heraus. Mona stopft sie zurück. Der Mann hüllt die Frau in seinen Mantel. Dann trägt er sie in ein Haustor. Er hinkt. „Ich hole einen Arzt. Drück den Schal fest in die Wunde.“ Er spricht schnell. ,,Sie blutet noch immer.“ „Wo soll ich drücken? Ich kann überhaupt nichts sehen.“ „Gib mir deine Hände.‘ In seine Stimme ist die Tiefe zurückgekehrt. Er nimmt Monas Hände, legt sie auf den klein zusammengefalteten Schal. „Mach zwei Fäuste. Jetzt drück. So hast du mehr Kraft. — Ich bin bald wieder da.“ Das Haustor fällt ins Schloß. Mona kniet neben der Frau und preßt mit ihrer ganzen Kraft auf die Wunde. Der Schal hat eine nasse Stelle. Nach einer Weile tun ihr die Knie weh. Sie