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setzt sich neben die Frau, drückt wieder fest mit den Fäusten. Sie will das Bluten besiegen. Sie hat vergessen, daß sie im Dunkeln Angst hat. Die Frau zittert. ,,Schiittelfrost hat Mona irgendwann einmal gehört. Sie schlüpft aus ihrem Mantel, deckt der Frau die Füße zu, konzentriert sich wieder auf die Wunde. Ihre Arme und Handgelenke beginnen zu schmerzen. Es ist kalt ohne Mantel. Sie denkt an den Mann mit dem Bart: „Er hinkt. — Wie ich auf seinen Schultern war, hat er noch nicht gehinkt. — Der Knüppel — der Mann hat mich — vor dem Knüppel gerettet —, wie die Polizeipferde gekommen sind. — Und ich weiß nicht einmal, wie sein Gesicht aussieht. — Er hat soviel Haar und Bart.“ Sie drückt fester auf die Wunde. ,, Vielleicht werde ich einmal Krankenschwester.“ Mona gähnt. Ihre Augen sind trocken und müde. Sie preßt die Fingernägel in das Innere ihrer Fäuste, um wach zu bleiben. Ein Auto hält vor dem Haustor. Der Mann mit dem Bart kommt mit zwei anderen Männern. Die zwei Männer heben die Frau in das Auto, fahren ab. Sie haben das Haustor nicht ganz geschlossen, sodaß etwas Licht auf seinen Haar- und Bartkranz fällt. Sein Gesicht bleibt im Dunkeln. Er hebt seinen Mantel vom Boden auf, nimmt die Handtasche der Frau, ‚Ihre Handtasche, mit den bunten Blättern, hat die Frau vergessen“, sagt Mona. Er antwortet nicht. Mona spürt, daß er sie ansieht. Eine ganze Weile. Dann sagt er: ,,Am besten, du gibst die Tasche bei der Polizei ab. Sag, du hast sie auf der Straße gefunden.“ Er nimmt die bunten Blätter aus der Tasche heraus, steckt sie in seinen Mantel. „Die Frau wird ihre bunten Blätter suchen“, sagt Mona. „Die Polizei darf die Blätter nicht finden, sonst wird die Frau eingesperrt. Sie sind verboten.“ „Warum?“ Er seufzt. ,, Wie soll ich dir das erklären?“ Wieder schweigt er eine Weile. ,,Hast du manchmal Hunger?“ fragen seine tiefen Schwingungen. \ „Manchmal. Wenn ich spät aus der Schule komme.“ „Hat deine Wohnung einen Ofen?“ ,,Ja. Viele. In jedem Zimmer einen.“ „Manche Kinder haben immer Hunger. Die Öfen in ihrer Wohnung sind immer kalt, weil ihre Eltern zu wenig Geld für Essen und Kohle haben.“ „Warum?“ „Sie haben keine Arbeit. — Und das steht 30. auf den Flugblättern.“ „Warum sind sie dann verboten?“ rums antworten. Aber ich muß jetzt fort.“ „Erzählst du es mir ein anderes Mal?“ „, Vielleicht“ , sagt er und es ist ein eigenartiger Ton in seiner Stimme, so als würde er über sich selbst lachen. „Wo kann ich dich finden?“ „Mich soll jetzt niemand finden.“ „Dann nimm mich mit! Ich will nicht mehr nach Hause!! - Ich kann Eierspeise kochen und Staub wischen — und Taschen tragen!“ Undenkbar, seine tiefe Stimme nicht mehr zu hören! Sie versucht verzweifelt, sein Gesicht zu sehen. Aber wieder fällt das wenige Licht nur auf seinen Haar- und Bartkranz. Er bückt sich zu ihr. „Du hast uns sehr geholfen“, sagt er und nimmt ihre kleine Hand in seine rauhe, große. „, Versprichst du mir etwas?“ Jal „Erzähle niemandem, was du heute erlebt hast. Du hast mich nie gesehen.“ Dann legt er den großen Kieselstein in ihre Hand, schließt behutsam ihre Finger darum. „Ich habe nichts anderes“ , sagt seine tiefe Stimme, deren Gesicht und Namen sie nicht kennt. „Hoffentlich magst du Kieselsteine.“ Sie hat ihn nicht verraten, damals. Natürlich gab es Fragen. Die Eltern waren glücklicherweise nicht zu Hause gewesen. Die arme Resi war schrecklich beunruhigt. „Bist hingefallen? — Hast ja Blut an den Händen! Hast dir weh getan? Wem gehört die fremde Handtasche? Wo ist dein Schal?“ Mona, erschöpft zur Benommenheit, murmelte etwas von einem Hund, der verletzt auf der Straße lag — ein großer Hund mit rot-goldenem Bart. „Ein Hund mit Bart?“ fragte Resi. Sie war ernstlich besorgt um das Kind. „Mit - Bart - zotteln“, sagte Mona leise und sackte auf dem Fußschemel zusammen vor Müdigkeit. Resi trug sie auf ihr Bett, wusch sie notdürftig. „Nicht den Eltern sagen. Bitte!“ „Ich verrat dich schon nicht.“ „Und die Handtasche —-“ Monas Zunge war schwer, ‚‚die muß zur Polizei.“ „Wem gehört denn die Handtasche?“ „Die - war bei dem Hund. Bitte Resi, zur Polizei, bitte.“ Mona hat das Haustor oft besucht und gehofft, ihn dort zu finden. Nichts. Nur der Kieselstein blieb. Sie schmiegte ihre Wange an sein Geschenk. Es schien, als ob der glatte Stein langsam das Pochen aus ihrem Kopf, das Brennen aus ihrer Wange zog. Nur das kreischende: ,,Du Nagel zu meinem Sarg!“ lag noch schneidend im Unterbauch. Mona legte die Hand mit dem Kieselstein darauf. Manchmal durfte Mona bei der Mutter schlafen, wenn der Vater verreist war. Sie durfte hinter Mutters Riicken liegen und ihren Bauch an Mutters runden, warmen Po schmiegen. Und genau dort, wo sie manchmal Mutters seidige Wärme im Bauch spürte, lag jetzt „du Nagel zu meinem Sarg“ eingegraben. Wie oft war sie schon ein Nagel zu Mutters Sarg gewesen? Wieviele Nägel bis der Sarg fertig war? Und wenn der Sarg fertig war, mußte die Mutter dann sterben? Mona fror. Sie zog die Decke über den Kopf, die Knie ganz eng an ihren kleinen Körper. Ohne Mutter war Mona nur noch ein Staubkorn in Wolken; ohne Arme, um sich festzuhalten — ohne etwas, woran sie sich festhalten konnte. Um Mona stiegen dunkle, ringförmige Wolken auf. Sie selbst wurde immer kleiner, alles um sie herum wuchs, wurde immer größer und lauter: das Knistern im Ofen, das Ticken der großen Uhr, ihr eigenes Atmen, ihr pochendes, klopfendes Blut schluckten sie auf und spotteten zugleich: „Sarg - na - gel! - Sarg - na - gel!“ Die riesigen Gegenstände um sie brauchten Platz. Sie drückten Mona zusammen, saugten sie aus. Monas leere Hülle schwebte über uferlosem Abgrund. Plötzlich stand der große schwarze Flügel vor Mona. Ganz ruhig und still, sein großer Deckel hochaufgestellt, ein schwarzglänzendes Segel. Mona riß sich los aus den Umklammerungen. Sie erreichte mit Mühe den Flügel und begann zu spielen. Große zitronengelbe Schmetterlinge, die einen schwarzen Punkt auf jedem Flügel hatten, stiegen auf aus dem Klavier und blieben schwebend vor dem schwarzen Klaviersegel stehen. Dann schwebten sie auf Mona zu und brachten ihr ein Paar große, gelbe Schmetterlingsflügel, damit sie hinfliegen konnte, wo sie wollte. Ein schwarzer Schatten füllte den Raum. Er war so groß, daß er sich bücken mußte, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. — Der Klavierlehrer! Mona erkannte ihn sofort an seinen knochigen Händen, die er nach den Schmetterlingen streckte.