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unbekümmert damit anfing, was sich am Nachmittag im Park mit Frau Müller abgespielt hatte, hielt sie plötzlich mitten im Satz inne: ganz zufallig war ihr Blick durch die offene Kiichentiir auf den Mantel im Korridor gefallen: Hans hatte ihn wohl hastig ausgezogen und aufgehängt. Der Kragen hatte sich hochgestellt, und sie erblickte das Parteiabzeichen der SED. An jenem Abend war Hans zum ersten Mal in ihrem gemeinsamen Leben grob zu ihr gewesen... Aus der unveröffentlichten Sammlung „Kleine Ostgeschichten“; Fragment aus der Novelle „Elisabeth“. Plädoyer für ein nicht gespieltes Stück „Kaddisch — Totengebet für Gertrud Kolmar“, ein Theaterstück von Simon Schiller Die Barbarei regierte in Deutschland ab 1933, und das macht Simon Schiller in den 20 Szenen deutlich, in denen sich der Weg ohne Wiederkehr der Lyrikerin Gertrud Kolmar und ihres Vaters, des schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten berühmten Strafverteidigers, vollzieht: von der luxuriösen Villa vor den Toren Berlins ins ,,Judenhaus“ am Bayerischen Platz, bis zur Deportation in den Osten, in den Tod. Geschildert werden Situationen aus den letzten vier Lebensjahren der Schriftstellerin Gertrud Kolmar, die mit bürgerlichem Namen Gertrud Käthe Chodziesner hieß, und die in Auschwitz ermordet wurde. Die Handlung des Stückes beginnt am 21. Januar 1939 und endet am Tag der berüchtigten „‚Fabrikation“ in Berlin. An diesem 27. Februar 1943 wurden die meisten der noch in der Stadt lebenden Juden verhaftet, viele von ihnen in den Fabriken, wo sie Zwangsarbeit leisteten, und zur Deportation in Sammellager gebracht. Unter ihnen war auch die ,,Riistungsjiidin“ Gertrud Kolmar. Schiller bringt dem Publikum den Menschen Gertrud Kolmar nahe: Die Berlinerin, die sich in ihrer Heimat als Jüdin, als Ausgestoßene gebrandmarkt sieht, die Dichterin, deren Werk nur noch im jüdischen Kulturbund — im kulturellen Ghetto — zitiert werden darf, die Frau, deren einstige große Liebe ‚„‚Arier“ ist, ein Offizier, der sich fürchtet, mit der ,,Reichsfeindin“ gesehen zu werden, und schließlich die Tochter, die ihren greisen Vater nicht verlassen will und die daher auf eine mögliche Auswanderung nach Palästina verzichtet. Dem Autor gelingt es, mit nur wenigen Charakteren ein menschliches Panorama zu präsentieren und einen Einblick in den Alltag des Dritten Reiches zu vermitteln, wie er für die deutschen Juden gewesen sein mag: Allen voran die Dichterin selber und ihr Vater, die trotz aller Drangsale Haltung bewahren. Da ist Hilde Benjamin, eine Freundin und durch ihre Heirat mit Walter Benjamins Bruder Verwandte der Familie Chodziesner, sie bringt Nachrichten vom inhaftierten Ehemann und von Walter Benjamin. Ein jüdischer Schicksal- und Arbeitskollege Gertrud Kolmars entpuppt sich als ,,Schutzjude“, der verzweifelt moralisch zu bestehen und vergeblich zu überleben hofft. Lilo, eine Mitbewohnerin Gertrud Kolmars, nach den Rassegesetzen „Dreivierteljüdin“ , schlägt sich auf die Seite der Nazis, in der Hoffnung, von der Deportation verschont zu bleiben. Fließend stellt Schiller hier die Übergänge von der Welt der Opfer zur Welt der Täter dar. Und da sind die Nazis: der berlinernde Blockwart Schimke und die beiden Gestapo-Leute Schwarz und Möller, deren Interesse vor allem der eigenen Bereicherung gilt. Schiller überfrachtet sein Theaterstück nicht mit Symbolismen, sondern entwirft einige realistische Motivstränge, die die Handlung durchziehen: es geht um den sozialen Abstieg der deutschen Juden im nationalsozialistischen Deutschland, aber auch um die innerjüdischen Kontroversen über Deutschtum und Judentum, über Zionismus und Antizionismus, über Nationalismus und Sozialismus. Die Diskussionen Gertrud Kolmars mit ihrem Vater um die Auswanderung gemahnen daran, wie oft ein solches Projekt an Geldmangel scheiterte, an dem vergeblichen Bemühen um ein Visum oder an der Sorge, ältere Verwandte in Deutschland zurückzulassen. Die allmählich wachsende Gewißheit, was hinter ,, Umsiedlung“ und „Evakuierung“ steckte — der Zuschauer wird die Angst, aber auch die Tapferkeit Gertrud Kolmars und ihres Vaters nachfühlen können. Beklemmend ist Schillers Schilderung der Beziehungen der Nationalsozialisten zu den Juden. Da ist zunächst die schamlose Bereicherung an jüdischem Eigentum, Stichwort „Schleusen": Ob Blaupunkt-Radio, Kleider, Möbel oder Schmuck, bis hin zur freigewordenen Wohnung, alles wird gestohlen, beschlagnahmt und sichergestellt: ,,das ist der wahre Sinn und Inhalt ihrer nationalsozialistischen Revolution“ nennt Hilde Benjamin dic Sache beim Namen. Da sind die ,,Schutz juden“, die erpreßbar sind, und die jüdischen „Greifer“, die Leidensgenossen aufspüren und ans Messer liefern, gefügig gemacht durch die Gestapo. Simon Schiller ist dabei um Authentizität bemüht und hat gut recherchiert: die Chodziesners lesen das tatsächlich seit 1938 erscheinende ‚Jüdische Nachrichtenblatt‘“, Gertrud Kolmars Werke werden in Veranstaltungen des , Jiidischen Kulturbundes“ rezitiert, der von 1933 bis 1941 existierte, und sie erhalten Angebote von der ,,Spedition Silberstein & Co“, die wirklich in den dreißiger Jahren auf Umzüge nach Palästina spezialisiert war. Die dichte Atmosphäre des Theaterstückes, die sich dem Leser sofort erschließt, und die sicher auch das Publikum ergreifen wird, entsteht durch die treffenden Charakterisierungen der Personen, durch die knapp gehaltenen, dabei eindringlichen Dialoge, durch die Beschränkung auf den Ort der Handlung, ein Judenhaus in Berlin, und durch den zügigen Ablauf der Handlung in nicht zu langen, oft sogar kurzen, spannenden Szenen. Besonders gelungen ist die Schilderung des Berliner Unterschicht-Milieus, verkörpert durch Blockwart Schimke und die Untermieterin Lilo, wirkungsvoll konterkariert von der gebildeten Oberschichten-Welt Gertrud Kolmars und ihres Vaters. Die Gestapo-Leute, werden — mitunter vielleicht ein wenig klischeehaft (Regieanweisung: der Untergebene habe dem Vorgesetzten „‚wie ein Hund“ zu folgen, oder die bisexuelle und perverse Veranlagung des Gestapo-Mannes Schwarz) — als ,,Menschen aus dem Volke“ geschildert, sie sind keine dämonisierten „Übermenschen“. Und dieser Blick auf ,, Menschen wie du und ich“ isteine der Stärken des Stückes: In einer Zeit, in der immer häufiger zu allgemein über „die Lage der Juden ab 1933“, über „die zahllosen namenlosen Opfer des Nationalsozialismus“ und gedankenlos über „Scham und Schuld der Tater“ debattiert wird, darf die Erinnerung und das Gedenken an die einzelnen Menschen nicht verloren gehen. Die Opfer haben Namen und ein individuelles Schicksal. Und die Täter saßen nicht nur in den obersten Etagen der Macht. Auschwitz begann mitten unter uns, in den Städten und Dörfern, in den Straßen, Häusern und Wohnungen. Dies wird dem Publikum deutlich werden: Mit guten Schauspielern und einer einfühlsamen Regie könnte „‚Kaddisch — Totengebet für Gertrud Kolmar“ von Simon Schiller ein Erfolg werden wie das Theaterstück „‚Ab morgen heißt Du Sara“ im Berliner Grips-Theater. Denkbar wäre aber auch eine Verfilmung oder eine Hörspiel-Inszenierung, möglichst noch im Jahr 1995. Barbara von der Lühe 33