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Der ,, Fall Griininger“ und die „Österreicher“ Bis Anfang der 80er Jahre galt in Österreich das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus als eine Angelegenheit der unmittelbar Betroffenen, der Opfer und ihrer Angehörigen. Fallweise konnte ihr Exempel herangezogen werden, sei es, um den _ eigenen österreichischen Beitrag zur Befreiuung vom Nationalsozialismus zu belegen, sei es, um der „Jugend“ die Schrecken jener finsteren Zeit vorzuführen und dadurch die staatsbürgerliche Gesinnung zu stärken. Ihrem sozusagen offiziellen Bewußtsein nach waren die Österreicher Mitglieder einer Leidensgenossenschaft, die schuldlos in zwei Weltkriege, einen Bürgerkrieg und in das alliierte Bombardement geraten war. Die Sonderleidensgemeinschaften Juden, Vertriebene, politisch Verfolgte mit ihren entsprechenden Vereinigungen wurden im Rahmen der Leidensgenossenschaft als personell schwächere Gruppen geduldet. In den 80er Jahren hat eine veritable Rebellion gegen dieses Arrangement mit der Vergangenheit eingesetzt, getragen vielleicht von einer Generation, die das schwarze Loch zwischen dem Ungeheuerlichen, das geschehen war, und der danach so rasch wieder hergestellten Wohlanständigekit nicht mehr aushalten wollte. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem Massenmord an Juden, „Zigeunern“, Geisteskranken, mit dem Exil und der Kultur des Exils erschloß einen neuen Zugang zur eigenen Geschichte und wirkte für einen Teil der Österreicher befreiend. Von einem anderen Teil der Österreicher wurde diese Auseinandersetzung blockiert, sie nahmen nicht daran teil, sie begannen sich mehr und mehr nach den bequemen Gemütszuständen der 60er und 70er Jahre zurückzusehnen. Paradoxerweise suchen heute die, die nicht von der ,, Vergangenheit“ loskommen, einen Weg vorwärts, während die, die dauernd ihre Sorge um die Zukunft des Landes plakatieren, in Wahrheit nur ein Roll back wünschen. Die österreichische Politik (mit Ausnahme der Haider-Partei, die das Ressentiment zu ihrem Klientel machte) hat nie aufgehört, zwischen dem einen und dem anderen Teil zu lavieren. Selbstverständlich wäre eigentlich gewesen: daß ein Paul Grüninger, der Hunderten ÖsterreicherInnen die Flucht in die Schweiz ermöglicht und damit das Leben gerettet hat, von Österreich geehrt wird, daß die österreichische Bundesregierung seine Rehabilitierung in der Schweiz fordert und ihn und seine Nachkommen für das Unbill schadlos hält, das er wegen seines Engagements für die Flüchtlinge erlitten hat. Aber das offizielle Österreich, beschäftigt damit, die eigenen Grenzen gegen neue Flüchtlingswellen abzudichten, weiß sehr gut zwischen „Juden“ und Österreichern zu unterscheiden, betrachtet den „Fall Grüninger“ nach wie vor als eine Angelegenheit der Juden und nicht auch Österreichs. Leider ändert die Benennung eines Schulzentrums in Wien-Floridsdorf, das 1996 eröffnet wird, daran nur wenig, obwohl dies ein erster und anerkennenswerter Schritt ist. Die Art und Weise, in der man sich durch den „Fall Grüninger“ so viele Jahre nicht betroffen fühlte, ist Ausdruck eines strukturellen Antisemitismus, der zwar keine neue Aktion gegen die Juden setzt, aber die durch den Nationalsozialismus erfolgte Aussonderung, Vertreibung und Ermordung der Juden als Gegebenheit hinnimmt. Die Bemühungen in der Schweiz, Paul Grüninger zu rehabilitieren, stellen eine unschätzbare Hilfe für österreichische Demokraten dar. Am ‚Fall Grüninger“ lernen sie, daß es nicht nur um die Solidarität mit den aus Österreich stammenden Verfolgten geht. Und am Fall Grüninger zeigen sich Grenzen und uneingestandene Voraussetzungen der österreichischen Politik. Diese Voraussetzungen zu kritisieren, ist ein Beitrag weniger zur „Bewältigung der Vergangenheit‘ als vielmehr zur Eröffnung einer Zukunft. Konstantin Kaiser Titelseite: Zeichnung von Peter A. W. Kubincan aus Anna Krommers im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erschienenem Buch ‚Staub von Städten“. Peter A. W. Kubincan wurde geboren als Arnold Weisz am 3. März 1898 im galizischen Ujscie (Polen), wuchs in Dolny Kubin (Slowakei) auf, studierte in Budapest und Berlin. Im Ersten Weltkrieg Militärdienst. Nach dem Studium Rückkehr in die Slowakei. In den 30er Jahren ist er auf dem Weg, ein anerkannter Künstler zu werden. 1939 geht er in die »Innere Emigration«; signiert von nun an seine Bilder mit Peter Kubincan. Thema seiner Bilder: der faschistische Terror und die eigene verzweifelte Ohnmacht. 1944 wird er im Zusammenhang mit dem „Slowakischen Nationalaufstand“ verhaftet und stirbt unter ungeklärten Umständen im KZ Sachsenhausen. - Kubincan war ein Bruder von Anna Krommers Mutter Valerie. 2 INHALT — Sophie Haber: Emigration S.3 Konstantin Kaiser/Siglinde Bolbecher: „Freiheitliche gegen Exilliteratur“ S.5 Felix Kreissler: Österreichische IdentitätsfraGert Kerschbaumer: Den Vogel zeigen S.11 Ursula Pasterk: Heißt ‚alles verstehen, alles verzeihen“? $.15 Gerda Hoffer: Exil S.16 Anna Mitgutsch: Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus S.17 Ilse M. Aschner: Entflogen S.19 Helga Embacher/Esther Gajek: Fernweh unter Zwang. Eine Ausstellung S.21 Markus Erwin Haider: Literatur der ‚Inneren Emigration“ aus Österreich 5.25 Valerie Lorenz-Szabo: Die letzten Tage des Krieges im Kloster im Wald 5.27 Ray Eichenbaum: Gunskirchen, Oberösterreich 1945 5.31 Josef N. Rudel: Bücher für den Herren Oberst 5.35 Shulamit Arnon: Wir sind Cousinen — über Lea Rabin 5.36 Gedichte/Aphorismen von Ernst Eisenmayer (S.7), Hanna Blitzer (S.18) Berichte, Notizen: Freispruch für Paul Grüninger (5.3), Ausstellung Risa Sattler (8.8), Symposium ‚Frauen im Exil“ (S.14), London: Gründung eines Exilforschungszentrums (5.17) und Symposium zur Exillyrik, Juni 1996 (S.18), Trude Krakauer (S.37), Roda Roda (S.40) Rezensionen iiber Biicher/Filme von Josef N. Rudel (V. Vertlib, S.38), Egon Humer (V. Vertlib, S.39), Soma Morgenstern (E. Adunka, S. 41), Prive Friedjung (V. Schallhart, S.42), Renate Wall (S. B., S.42), Camill Hoffmann (E. Adunka, 5.42); Buchzugänge S.43 Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft Die Theodor Kramer Gesellschaft, die ja seit 1984 die MdZ verlegt und seit 1990 das Jahrbuch Zwischenwelt herausbringt, wird nun auch als Buchverlag tätig. Geplant sind zwei Bücher im Jahr. Als erstes Buch ist im Oktober 1995 in Zusammenarbeit mit dem ,,Osterreichischen Literaturforum“ (Krems) Anna Krommers Gedichtband ,,Staub von Städten“ , herausgegeben und eingeleitet von Sabine Prem und mit einem Nachwort von Walter Grünzweig, erschienen. (85 Seiten, öS 140,-). 1996 sind ein von Siglinde Bolbecher herausgegebener Stella Rotenberg-Band (aus Anlaß ihres 80. Geburtstages) und eine Lebenschronik Theodor Kramers (dessen 100. Geburtstag auf den 1.1. 1997 fällt) von Konstantin Kaiser geplant.