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Sophie Haber Emigration Am Abend des 9. November 1995 fand an der österreichisch-schweizerischen Grenze Hohenems-Diepoldsau eine ergreifende Demonstration statt. Sie folgte den Spuren 1000er jüdischer Flüchtlinge, für die das Erreichen der neutralen Schweiz die Rettung ihres Lebens bedeutete. Die Veranstaltung, organisiert im Rahmen der Jugendkampagne des Europarates gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Intoleranz, begann schon am 8. November um 20 Uhr am Westbahnhof. Familienministerin Moser hielt eine Ansprache über die Vertreibung der Wiener jüdischen Mitbürger und über die Hoffnung, daß sich eine so furchtbare Zeit nie mehr wiederhole. Der Journalist und Historiker Stefan Keller (‚‚Grüningers Fall“) sprach über Paul Grüninger und sein tragisches Schicksal. Zum Abschluß spielte eine Klezmer-Band. Am 9. November fuhr der Zug mit einer Gruppe von etwa 20 Teilnehmern im reservierten Waggon ab. Passagiere aus anderen Waggons wurden zu Diskussionen eingeladen. Um ca. 18 Uhr kamen wir in Feldkirch an und wurden mit einem Bus vor die Grenzstation St. Margrethen gebracht. Ein imposanter Fackelzug aus der Schweiz vereinte sich mit uns Österreichern. Ich erzählte den Teilnehmern an der Kundgebung von meiner Flucht und Aufnahme in der Schweiz vor genau 57 Jahren. Ist es wirklich schon so lange her, daß ich am Westbahnhof Abschied von meinen Eltern nahm, nicht ahnend, daß es das letzte Mal war, daß ich sie sah. Meinen Eltern war die Rettung der Kinder am wichtigsten. So fuhren meine drei Brüder schon im August in die Schweiz, als die Grenzen noch offen waren und sie Asyl fanden. Auch für mich wurde die Situation aussichtlos. Ich war Lehrmädchen in einem jüdischen Schneidersalon und wußte, daß das Geschäft bald gesperrt wird. Ich habe immer Angst gehabt. Wir haben im 20. Bezirk bei der Floridsdorfer Brücke gewohnt und gearbeitet habe ich im 9. Bezirk in der Nähe der heutigen Friedensbrücke. In der Früh mußte ich zu Fuß ins Geschäft gehen, über die Brücke, wo oft SA-Leute standen. Und spät erst in der Nacht zurück. Es war finster, es gab Verdunkelungsübungen. Im Oktober 1938 entschlossen sich meine Eltern, auch mich wegzuschicken - sie blieben, in der falschen Hoffnung, daß älteren Menschen zumindest das Leben gesichert sei. Nicht ganz so bequem und nicht in so friedlicher Athmosphäre wie im November 1995, sondern illegal, bei Nacht und Nebel, gemeinsam mit einem Ehepaar und dessen beiden Kindern, drei und fünf Jahre, errreichten wir damals nach einem ungefähr eineinhalbstündigen Marsch Diepoldsau. Dort erwartete uns ein Taxi, das meine Brüder organisiert hatten und uns nach St. Gallen brachte. In dieser Nacht, es war Ende Oktober 1938, begann meine Emigrationszeit. Die Flucht war überstanden, das Exil begann. Es sollte sieben Jahre dauern. Sieben Jahre, die die schönsten Jahre, die Jugendzeit, sein ger. Obwohl die Grenzen damals schon gesperrt waren, ermöglichte er mir den Aufenthalt in der Schweiz — doch darüber später. Ich war Emigrantin, vertrieben aus dem Land, das meine Heimat war. Mit sechzehn Jahren ohne Eltern, ohne Existenz. Meine Erinnerung und meine Gefühle betreffend die Schweiz sind gespalten. Ich habe in diesem Land mit einer gewissen Sicherheit den Krieg und die Hitlerzeit überleben können. Aber es war nicht leicht. Als ‚‚„Menschen zweiter Klasse‘ durften wir keine Arbeit annehmen, keine Ortsveränderung ohne polizeiliche Bewilligung vornehmen. Fast alle Männer kamen in Arbeitslager, was einer Internierung gleichkam. Trotzdem waren es meine ,,Schicksalsjahre“, wenn ich das so sagen kann. In Wien konnte ich keine höheren Schulen besuchen, aber diese Zeit wurde für mich eine Universität, die mein späteres Leben beeinflussen sollte. Als wohlbehütete Tochter einer Mittelstandsfamilie hatte ich wenig Gelegenheit gehabt, mich über die spannungsgeladenen Dreißigerjahre zu informieren oder politische Aufklärung zu erhalten. Zwar hatte ich den Umsturz im Februar 1934 bewußt erlebt, aber verstanden habe ich die Vorgänge erst durch Diskussionen mit politischen Flüchtlingen in der Schweiz. Auch das war eine Schule und Vorbereitung für ein Leben nach der Emigration, wo ich hoffte, als freier Mensch meine Ideale auch verwirklichen zu können. Ich bin an einem Freitagabend in der Schweiz angekommen; meine Brüder haben mich bei einer Schweizer Familie untergebracht. Am Montag dann bin ich mit einem meiner Brüder zu Paul Grüninger gegangen. Ich hatte ja keinerlei Papiere und wäre, Paul Griininger rehabilitiert - das Plädoyer des Verteidigers Am 27. November 1995 wurde der Prozeß gegen Grüninger vor dem Bezirksgericht St. Gallen wieder aufgenommen. Im selben Raum hatte im Dezember 1940 die Verhandlung stattgefunden, die mit der Verurteilung Grüningers wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe endete. Durch diese Verurteilung schied Grüninger ohne Pensionsanspruch aus dem Polizeidienst und war lebenslang benachteiligt. Die Wiederaufnahme war durch jahrelange Arbeit des Komitees „Gerechtigkeit für Paul Grüninger“ erreicht worden. Am 30.11. 1995 wurde der posthume Freispruch Grüningers bekannt. Die Nachkommen Grüningers haben nun die Möglichkeit, auf Entschädigung für das Grüninger (und mit ihm seiner Familie) widerfahrene Unrecht zu dringen. Für die Wiederaufnahme plädierte am 27.11. 1995 Rechtsanwalt Paul Rechsteiner. Wir zitieren einige Stellen aus seinem großangelegten Plädoyer. „Im damaligen Prozeß war vom Schicksal der jüdischen Flüchtlinge, die Paul Grüninger zwei Jahre vorher gerettet hatte, nicht die Rede, und die drohende Vernichtung der europäischen Juden, welche sich seit der Machtübernahme angekündigt hatte, war kein Thema. Kein Flüchtling ist vom Gericht angehört worden. Wo es um die Flüchtlinge geht, spricht das Urteil vage von ‘politischen Vorgängen in Österreich und verschärften Maßnahmen gegen Juden im Reich’.“ „Ruth Roduner war 18 Jahre alt, als ihr Vater von einem Tag auf den anderen auf die Straße gestellt und gegen ihn das Strafverfahren eingeleitet wurde. [...] Die Ausgrenzung und Verfemung ihres Vaters, auch die plötzliche Armut, hat sie hautnah erlebt, und sie hat ihr eigenes Leben geprägt ... Noch 1969, drei Jahre vordem Tod ihres Vaters, als sie zusammen mit Gertrud Rohner wegen seiner Rehabilitierung beim St. Galler Regierungsrat vorsprach, mußte sie sich sagen lassen, daß er ‘Dreck am Stecken’ habe.“ „Was Grüninger bei seinen Kontakten mit den Flüchtlingen erlebte, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, welch grauenhaften Übergriffen die österreichischen Jüdinnen und Juden, um die es hier geht, nach dem sogenannten Anschluss ausgesetzt waren. Wien empfing Hitler im März 1938 wie einen Befreier [...] Österreich und vorallem Wien wurden in der Folge zum Experimentierfeld für die Nazis: 3