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Ursula Pasterk Heißt ‚‚alles verstehen, alles verzeihen‘“‘? Ansprache bei der Eröffnung des Internationalen Symposiums ‚Frauen im Exil“ am 19. Oktober 1995 im Kleinen Festsaal der Universität Wien Das Problem der politisch motivierten Flucht ist leider eines von großer Brisanz und Aktualität. Europa erlebt derzeit die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich halte die Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen über Vertreibung und Exil aus zwei Gründen für besonders wichtig: Sie machen uns bewußt, daß Flüchtlinge keine Bedrohung sind, daß das Menschen sind, die nicht bedrohen, sondern die bedroht sind. Diese Menschen sind keine Last für die Gesellschaft. Sie tragen die Last der Gesellschaft. Die historische Auseinandersetzung lehrt uns, diesen Unterschied zu kennen. Die Theodor Kramer Gesellschaft und der Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur haben vor allem in den letzten 15 Jahren in einer engagierten und genauen wissenschaftlichen Analyse Exil und Emigration von Künstlerinnen und Künstlern, die 1938 Österreich verlassen mußten, ausgeleuchtet. Diesen beiden Institutionen und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes möchte ich für das Zustandekommen dieses wichtigen Symposions über Frauen im Exil danken. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Verfolgung und Vertreibung macht uns deutlich, daß Geschichte immer lebt: in den individuellen Geschichten der einzelnen Menschen ebenso wie in der Geschichte der Strukturen und Mentalititen. Probleme kann man nur lösen, wenn man ihre Herkunft kennt. Oder, um es mit den Worten von Marguerite Duras zu formulieren: ‚‚Wir müssen uns erinnern, sonst wird sich alles wiederholen“. Was wir also tun können, ist, Spuren zu sichern und die Vorgeschichte aufzurollen. Die meisten, die 1938 aus Österreich emigrierten, mußten die Entscheidung, in einem neuen Land, in einer fremden Kultur zu leben, in ganz kurzer Zeit treffen. Diese Entscheidung bedeutete eine radikale Veränderung. Die Grinbergs sprechen in ihrem 1989 erschienenen Buch ,,Psychoanalytic Perspectives on Migration and Exile“ von einer Psychopathologie der Emigration. Die Emigranten verloren die vertraute kulturelle Umgebung, sie verloren sehr oft ihre Familie, die Freunde, die berufliche Anerkennung, das vertraute Essen und Trinken. Vor allem die Sprache, dazu die bekannten Straßen und Landschaften, die selbstverständlichen sozialen Umgangsweisen und die genaue Kenntnis der zu erwartenden Reaktion der Umwelt wurden verloren. des Selbst zu verlieren. Die Menschen verloren gleichsam ihre psychologische Haut. Für die meisten Emigranten war diese Entscheidungsphase, die Heimat zu verlassen, dramatisch kurz. Oft gab es nur wenige Minuten, die übrig blieben, um das Leben zu retten. Meist erfolgte eine Warnung vor einer drohenden Verschleppung, Ermordung oder Festnahme, so daß die Entscheidung zu fliehen, die einzige Chance zum Überleben darstellte. Den meisten der Exilantinnen und Exilanten fehlte daher auch jener Teil der Trauerarbeit, der mit dem Abschiednehmen verbunden ist. Erst in den letzten Jahren wurde — mehr als 50 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen der Nazizeit- eine Auseinandersetzung mit vielen tiefer liegenden Schichten der Emigrations- und Verfolgungsproblematik möglich. Der größere zeitliche Abstand, die Fragen der jüngeren Generationen, der Nachkommen der Verfolgten und Verfolger haben viele Chancen eröffnet. Bei Hugo von Hofmannsthal sagt Elektra: „Ich bin kein Vieh, ich kann nicht vergessen.“ Und Ruth Kliiger in ihrem Buch ,,weiter leben“: ,, Verzeihen ist zum Kotzen“ und weiter ,,und ich lehne mich in die Polster zuriick, es wird mir schwarz vor Miidigkeit, Ursula Pasterk bei ihrer Eröffnungsrede Ruth Beckermann 15