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Ilse M. Aschner Entflogen Stichwort Heimat, in Meyers Großem Lexikon definiert wie folgt: Subjektiv von einzelnen Menschen oder kolektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht. Das Kind — hatte es eine besonders enge Verbundenheit zur Heimat? Es kannte kaum anderes als die Heimatstadt Wien. Vertraute Wege zur Schule, die Hauptstraße überqueren, rechts links schauen, der kleine, ein bißchen verstaubte Park, da die Schule. Oder an Samstagen, immer der gleiche Weg, Besuch bei den Großeltern. Die Spieluhr mit dem dünnen kling-klang-Liedchen „Heimatland, Heimatland“, das ja. Das Kind kann es gar nicht oft genug hören. Noch einmal, Großpapa, bitte! Dazu Omas Nußkekse knabbern, kann ich noch eines haben, bitte? Das ja, eine ganz enge, innige Verbundenheit mit den Großeltern... Oder die Stadtspaziergänge mit dem Vater, der jeden Winkel Wiens kennt und liebt. Der die Prachtbauten auf der Ringstraße, die Schätze der Museen und die Hofburg erklärt und den Heldenplatz. Bis heute kann ich ihn nicht überqueren ohne an einen späteren Heldenplatz zu denken — ich habe immer noch das Gebrüll Zehntausender im Ohr, die ihrem „Führer“ am Balkon zugrölen — das blieb mir auch in der Fremde im Kopf. Thomas Bernhard: In Oxford gibt es keinen Heldenplatz in Oxford ist Hitler nie gewesen in Oxford gibt es keine Wiener in Oxford schreien die Massen nicht An Sonntagen die Familienausflüge. Mit der Straßenbahn durch die Vorstädte gezockelt, bis zur Endstation. Jeden Sommersonntag eine andere Straßenbahn, ein anderes Dorf. Der Vater kennt alle Wege — sie führen immer in den Wald. Damals riecht es noch nach Schwammerln im Wienerwald, man darf sie sammeln, wir finden Brombeeren und Walderdbeeren. Die Finger sind rot-blau verfärbt. Besondere Verbundenheit? Das Kind liebt die Wanderungen mit den Eltern und mit dem Bruder — an ‚‚Heimat‘“ denkt es nie, höchstens in der Schule, wenn Heimatkunde dran ist. Max Frisch: Landschaft als Heimat, da kenn ich Flurnamen, die nicht angeschrieben sind oder wenn ich sie nach Jahrzehnten vergessen habe, so erinnere ich mich, sie gekannt zu haben. Heimat hat mit Erinnerung zu tun, nicht mit Erinnerung an ein einmaliges Ereignis, Akrokorinth, wenn die Sonne aufgeht, ist nicht Heimat geworden und in Mexico nicht der Monte Albano. Heimat besteht aus einer Fülle von Erinnerungen, die kaum datierbar sind. Fast meint man, diese Landschaft kenne ich, mehr als du vielleicht willst und in diesem Sinn — Landschaft als Szenario gelebter Jahre — wäre allerdings vieles zu nennen, nicht bloß der Lindenhof oder Greifensee, auch an den Dünen der Nordsee, einige römische Gassen, ein verrotteter Pier am Hudson... Während der Ferien geht’s ‚aufs Land“. Ins Ausland fahren nur die Reichen, die kleinen Leute fahren, wenns gut geht, „aufs Land“. Ferien am Bauernhof würde man heute sagen und kommt sich ganz exotisch vor. Damals, schlechte Zeiten, kennen die meisten nichts anderes. Manchmal ins Burgenland. In der Nähe ein Ort mit Namen Rechnitz, der Name hat keine Bedeutung, ein Dorf wie Hunderte andere. Manchmal nach Oberösterreich. Das Dorf heißt Mauthausen. Ein Bauernhof mit Ställen, dem Misthaufen, im Hof ein Brunnen. Sanfte gefleckte Kühe auf den Wiesen, wir Kinder dürfen auf dem Pferdewagen mit zum Heuen fahren. Zehn Jahre später werden auf diesen Wiesen, verschneit jetzt in der Februarkälte, Menschen zu Tode gejagt werden, die einen verzweifelten Ausbruch aus dem Todeslager wagten, versuchten, ihr bißchen Leben zu retten. Die Bauern werden den SS-Schergen übereifrig helfen, die Totgeweihten dieser Hasenjagd aufzustöbern und einzufangen, zu erschlagen. Welche Bauern? Auch der freundliche Mann, bei dem wir voreinem halben Jahrhundert gewohnt hatten? Stella Rotenberg: Besuch in Deutschland nach dem Jahr 1945 Zu wem spreche? Wem folge ich vertrauend ins Haus? Welcher hat meine Mutter getötet? Sie sehen alle doch wie Menschen aus. Krisenzeiten. Der Vater wird arbeitslos, die sozialistische Partei wird in Österreich verboten - ein autoritäres Regime. Prozesse, Verhaftungen, Unsicherheit. Gesinnung wird von oben befohlen. Das Dollfuß-Regime wird zum Feind im Elternhaus. Was für eine Heimat ist das der Heranwachsenden? Und doch: hier war ich geboren, aufgewachsen, beschützt und geborgen in der Familie, das war mein Zuhause. Bis die Gesetze, die den Begriff ‚Recht auf Heimat“ definierten, ihre Bedeutung verloren. Neue Gesetze bestimmten nun das Leben in diesem Land. Die ‚Nürnberger Rassegesetze“ zum Beispiel. Die Familie fällt den neuen Gesetzen zum Opfer, das Recht auf Heimat gibt es für uns nicht mehr. Das Leben ist bedroht — aber ich bin doch erst zwanzig und habe noch gar nicht richtig gelebt - und ich möchte es so verzweifelt: leben. So muß ich das Land verlassen, das nicht mehr meine Heimat sein will. Meine Rettung ist England. Was mein ureigenstes, engstes Stückchen Heimat gewesen ist — Eltern, Verwandte, Freunde, das Heim — bleibt zurück. Zu den Bildern, die sich mir für ein ganzes Leben eingeprägt haben — und damit auch mein Leben geprägt haben, gehört der Bahnsteig in der Heimatstadt, am Westbahnhof, auf dem, als der Zug im März 1939 die Halle verläßt, meine Eltern hoffnungslos ihrem jüngeren Kind nachwinken. Ich habe Vater und Mutter nie mehr wiedergesehen. Stella Rotenberg: Biographie Geboren in der Kriegszeit in Wien, gestorben in der Kriegszeit am Marsch in Richtung Minsk, erschlagen von einem SS-Mann aus Wien weil sie nicht rascher laufen konnte. Sie hinterließ keinen Namen kein Gebein nichts als einen kleinen Schrei. Ich lande in der Fremde. Fremde Menschen, eine fremde Spräche, eine fremde Landschaft. Eine große, alles verschlingende Leere. Während der Zug nordwärts rattert, meinem Bestimmungsort entgegen, starre ich, von Heimweh gelähmt, versteinert aus dem Fenster. Flach ist alles da draußen, so endlos flach, kein Hügel, kein Wald, kein hoher Baum, nur Felder und Hecken... Es wird noch lange dauern, bis 19